Entscheidungsstichwort (Thema)
"Das unlesbare Buch": Streit um die Veröffentlichung einer Broschüre mit Auszügen aus Hitlers "Mein Kampf"
Leitsatz (amtlich)
1. Das Erfordernis des Zitatzwecks erstreckt sich auf alle - in § 51 Satz 1 UrhG allgemein geregelten - Arten des Zitats. Ist eine Werkwiedergabe nicht von einem Zitatzweck getragen, so ist sie auch dann unzulässig, wenn sie im Übrigen die Voraussetzungen einer der in § 51 Satz 2 UrhG angeführten Alternativen erfüllt.
2. Ein Zitatzweck liegt nur vor, wenn das als Zitat übernommene Werk dem aufnehmenden Werk dient. Die absolute Grenze des zulässigen Zitatzwecks ist überschritten, wenn nicht das zitierte Werk dem neuen Werk dient, sondern das neue Werk lediglich den Rahmen für eine Nutzung des aufgenommenen Werks darstellt.
3. Die urheberrechtlichen Verwertungsrechte umfassen auch die Befugnis, von der Verwertung eines Werks abzusehen. Der Entscheidung, ein Werk nicht zu verwerten, kommt wirtschaftliches Gewicht in eben dem Umfang zu, in dem eine Verwertung zu Einnahmen führen könnte.
4. Die Dringlichkeitsvermutung des § 12 Abs. 2 UWG findet im Urheberrecht keine Anwendung. Eine einstweilige Verfügung kann jedoch zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Antragsteller erforderlich sein, wenn ihm nicht zugemutet werden kann, entgegen seinem Primäranspruch die drohende Verletzung seiner Verwertungsrechte hinzunehmen, insbesondere wenn die Beeinträchtigung durch Sekundäransprüche nicht angemessen ausgeglichen werden kann.
Normenkette
GG Art. 5; UrhG § 51; ZPO § 940
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 08.03.2012; Aktenzeichen 7 O 1533/12) |
Tenor
I. Die Berufung der Antragsgegner gegen das Urteil des LG München I vom 8.3.2012 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass in Ziff. 1. dieses Urteils die Datumsangabe "3.3.2012" durch "25.1.2012" ersetzt wird.
II. Die Antragsgegner haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Gründe
A. Die Parteien streiten um die Veröffentlichung einer Broschüre mit Auszügen aus Adolf Hitlers Mein Kampf und Kommentaren dazu.
Nachdem der in Bayern gelegene Nachlass Hitlers gem. Art. 37 des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946 (BayBS III S. 223) vollständig eingezogen worden war (vgl. Spruch der Spruchkammer München v. 15.10.1948 - I-3568/48; Anlage ASt 12), übertrug die Bezirksfinanzdirektion München am 26.1.1965 u.a. die Urheberrechte an Mein Kampf dem Antragsteller, dem Freistaat Bayern (vgl. Anlage ASt 14).
Die Antragsgegnerin zu 1., eine Private Limited Company mit Sitz in Großbritannien, deren Geschäftsführer (director) der Antragsgegner zu 2. ist, verlegt die Zeitschrift Zeitungszeugen (vgl. auch OLG München, Urt. v. 1.10.2009 - 29 U 2462/09; juris). Sie kündigte im Internet eine Beilage zur Zeitschrift mit dem Titel Das unlesbare Buch u.a. wie folgt an (vgl. Anlage ASt 5):
UNLESBAR
denn fast niemand hat den größten Bestseller der 1930er-Jahre wirklich gelesen
UNLESBAR
denn es ist ein schlecht geschriebenes Buch in geschmackloser und verworrener Sprache
UNLESBAR
denn seit fast 70 Jahren ist "Mein Kampf" unzugänglich
"Das unlesbare Buch" möchte mit einem Mythos aufräumen. "Mein Kampf" ist ein ermüdendes und dumpfes Buch, das einen geheimnisvollen Ruf und unberechtigte Bedeutsamkeit erlangen konnte, weil es versteckt, verboten und verbannt wurde. In diesem Heft finden Sie Auszüge aus "Mein Kampf" mit detaillierten Erläuterungen und Analysen. Lesen Sie es. Machen Sie sich Ihr eigenes Bild. Damit wir endlich den Mythos von "Mein Kampf" begraben können.
In dieser dreiteiligen Beilage, deren insgesamt 18 Seiten umfassender erster Teil als Anlage ASt 4 (= Anlage AG 7/2) vorliegt, werden Textstellen aus Mein Kampf Anmerkungen gegenübergestellt, die von Professor Dr. P. stammen, der am Institut für Journalistik der Technischen Universität D. lehrt. Zur Ausgestaltung des ersten Bands dieser Beilage wird auf die Anlage ASt 4 (= Anlage AG 7/2) Bezug genommen.
Der Antragsteller erachtet die Veröffentlichung dieser Zeitschriftenbeilage als eine Verletzung seiner Verwertungsrechte an Mein Kampf und hat beim LG am 25.1.2012 eine im Beschlussweg ergangene - mit Beschluss vom 3.2.2012 berichtigte - einstweilige Verfügung folgenden Inhalts erwirkt:
Den Antragsgegnern wird im Wege der einstweiligen Verfügung unter Androhung [von Ordnungsmitteln] untersagt, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Auszüge aus dem Buch Mein Kampf von Adolf Hitler herzustellen und/oder zu vervielfältigen und/oder zu vertreiben und/oder herzustellen und/oder vervielfältigen und/oder verbreiten zu lassen, wenn dies in Form einer kommentierten Broschüre wie in Anlage ASt 4 wiedergegeben geschieht.
Hiergegen haben die Antragsgegner Widerspruch eingelegt und sich insbesondere darauf berufen, dass die Wiedergabe der Textstellen aus Mein Kampf durch das Zitatrecht gem. § 51 UrhG gedeckt sei. Sie haben beantragt, die einstweilige Verfügung aufzuheben und den Antrag auf deren Erlass zurückzuweisen.
Der Antragsteller ist der Auffassung der Antrag...