Gründe
(b-c) ›... Ebenso, wie der Bayer.VGH (BayVGHE 22, 1, 91) bereits für das Verwaltungsverfahren ausgesprochen hat, in welchem ein Dritter grundsätzlich auch nur einen Ermessensanspruch auf Akteneinsicht hat, kann auch im Zivilprozeß ein Rechtsanspruch auf Akteneinsicht im Einzelfall gegeben sein.
Zur Bejahung eines derartigen Anspruchs im vorl. Fall [in dem der Antragsteller (AntrSt.), der als Rechtsanwalt die Interessen eines angeblich durch ein chemisches Produkt Geschädigten gegenüber dem Produzenten vertritt, vom Präsidenten des LG Einsichtnahme in eine zu einem ähnlichen Rechtsfall ergangene Entscheidung des LG begehrt,] gelangt der Senat unter zweckentsprechender Auslegung des § 299 ZPO einerseits und unter Würdigung und Abwägung der Interessen der verschiedenen Beteiligten des zur Entscheidung stehenden Falls andererseits.
Zutreffend hat der LG Präsident als Antragsgegner den Interessen der Parteien des Zivilprozesses an der Geheimhaltung des Prozeßstoffes und dem Interesse des Gerichtes an einer rationalen und kostengünstigen Aktenführung ein bedeutendes Gewicht beigemessen. Der Senat teilt aber die Meinung des LG-Präsidenten nicht, daß gegenüber diesen Interessen unter den besonderen Umständen des vorl. Falles, der Erkennbarkeit einer der Prozeßparteien aus dem Urteilszusammenhang trotz Schwärzung der individuellen Bezeichnungen, das Interesse des AntrSt. an der Information über die maßgeblichen Erwägungen des Urteils, dessen Herausgabe verlangt wird, zurückzutreten habe.
Der Senat mißt vielmehr diesem letztgenannten Interesse eine derart hohe Bedeutung bei, daß er die Versagung der erbetenen Information für schlechthin nicht vertretbar hält.
Dem AntrSt. geht es darum, daß er die im erbetenen Urteil zum Ausdruck gelangte Rechtsauffassung des LG über die Haftung des Herstellers eines chemischen Produkts für die angeblichen gesundheitlichen Folgen dieses Produktes mit in seine Überlegungen einbezieht, die er bei der Beratung eines Mandanten, der sich ebenfalls durch ein ähnliches oder identisches Produkt gesundheitlich geschädigt fühlt, pflichtgemäß vorzunehmen hat. Das vom AntrSt. hier dargelegte Bedürfnis nach Information über die für seinen bzw. seines Mandanten Fall bedeutsame Rechtspr. gewinnt im Lichte der Verfassung derart hohe Bedeutung, daß die Weigerung, diesem Bedürfnis nachzukommen, als nicht mehr tragbar erscheint. Es ist nämlich zu berücksichtigen, daß der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf Rechtsschutzgewähr (siehe Art. 101, 103 GG und Art. 6 der Menschenrechtskonvention) nur dann vollständig und in richtiger Weise wahrgenommen werden kann, wenn man sich auch in der für den einzelnen Rechtsschutzfall wesentlichen Rechtspr. auskennt. Denn das Recht, an dem sich der einzelne orientieren kann und muß, besteht ja nicht nur aus den Gesetzen, sondern auch aus der diese Gesetze interpretierenden und konkretisierenden Rechtspr..
Der mit einem Rechtsfall konfrontierte einzelne muß bereits vor einem etwaigen Prozeß wissen, ob es sich überhaupt lohnt zu prozessieren, und, wenn ja, wie vorzugehen ist. Die Kenntnis über die einschlägige Rechtspr. ist damit Voraussetzung für den Gebrauch der Rechte und eine sinnvolle Inanspruchnahme des Gerichtsschutzes. In diesem Sinn kann auch der Feststellung Grundmanns (DVBl. 1966, 57) zugestimmt werden, daß die Gerichte eine Informationspflicht haben, die sich letztlich aus den Grundsätzen der freiheitlichen Demokratie herleitet.
Im besonderen Maß gilt diese Pflicht gegenüber dem Anwalt in seiner Funktion als Organ der Rechtspflege und sachkundiger Berater der Partei bei der Inanspruchnahme des Rechtsschutzes. Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund muß man dem rechtlichen Interesse, soweit es sich auf die Kenntnis der Rechtspr.-Meinung des Gerichtes in einem Parallelfall, geäußert im gerichtlichen Urteil, bezieht, einen besonders hohen Rang auch bei der Auslegung des niederrangigen Rechts, des hier maßgeblichen § 299 Abs. 2 ZPO, einräumen. Das bedeutet, daß man auch im Rahmen dieser Vorschrift dem Begehren auf Akteneinsicht, soweit es sich auf die Kenntnisnahme von einem im Prozeß ergangenen Urteil beschränkt, eine deutliche Sonderstellung einräumen muß. Insofern ist § 299 Abs. 2 ZPO deutungs- und differenzierungsfähig im Sinn der verfassungsrechtlichen Grundwertung als Teil des Rechtsschutzes schlechthin.
Das nicht nur rechtliche, sondern auch verfassungsrechtlich anerkannte Interesse des Rechtsuchenden an der Information über für seinen Fall bedeutsame Rechtspr. ist gegenüber dem Interesse des Staates an einer zügigen und kostensparenden Verwaltung und dem Interesse der Prozeßparteien an der Geheimhaltung ihres Falles abzuwägen. Dabei ergeben sich bereits aufgrund der allgemeinen Rechtssituation derart wesentliche Hinweise auf die geringere Bedeutung der genannten Gegeninteressen, daß es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten erscheint, jedenfalls unter den besonderen Umständen des hier vorl. Falles dem AntrSt. nicht nur eine Chance,...