Leitsatz (amtlich)
Bei der im Rahmen von § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu erörternden Zumutbarkeit der Passbeschaffung von den Heimatbehörden nach §§ 48 Abs. 2 AufenthG i. V. m. § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufentVO sind die Regelungen des § 3 Abs. 3 WPflG und des § 7 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 8 PassG heranzuziehen, so dass einem türkischen Staatsangehörigen auch bei fortgeschrittenem Lebensalter zugemutet werden kann, den Wehrdienst in den türkischen Streitkräften zu leisten, wenn die türkischen Behörden die Ausstellung eines neuen Passes hiervon abhängig machen. Dass das türkische Recht an die Stelle der Wehrdienstleistung die Möglichkeit einer Ablösezahlung setzt, ist von der deutschen Rechtsordnung hinzunehmen.
Normenkette
PassG § 7 Abs. 1 Nr. 8; AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, § 48 Abs. 2; AufenthVO § 5 Abs. 2 Nr. 3; WPflG § 3 Abs. 3; PassG § 7 Abs. 1 Nr. 7
Verfahrensgang
LG Deggendorf (Entscheidung vom 28.07.2010) |
Tenor
I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 28. Juli 2010 samt den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens an eine andere Strafkammer des Landgerichts Deggendorf zurückverwiesen.
Gründe
I. Das Amtsgericht Deggendorf hat den Angeklagten mit Urteil vom 20. April 2010 wegen illegalen Aufenthalts zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 20,-- EUR verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat die Strafkammer des Landgerichts Deggendorf mit Urteil vom 28. Juli 2010 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.
Die Strafkammer hat zu dem Freispruch folgenden Sachverhalt festgestellt:
Der nicht vorgeahndete, geschiedene Angeklagte ist seit 1973 ununterbrochen in Deutschland wohnhaft. Er ist türkischer Staatsangehöriger. Derzeit arbeitet er als Hausmeister in der Gastronomie und verdient ca. 900,00 € im Monat. Vorher hat er nach längerer Arbeitslosigkeit Teilzeit gearbeitet. Unterhaltsverpflichtungen hat der Angeklagte nicht.
Zunächst hielt sich der Angeklagte im Gebiet der Bundesrepublik mit seinem türkischen Reisepass auf. Dieser türkische Reisepass mit der Nummer xxx war allerdings nur bis 02.09.2006 gültig. Dennoch hielt sich der Angeklagte ohne gültigen Pass seit 03.09.2006 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf. Er wusste, dass er verpflichtet war, beim Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einen Pass zu besitzen oder sich zumindest um die Ausstellung eines Passes oder Ausweisersatzes zu bemühen.
Dabei hat ihm das türkische Generalkonsulat in München mit Schreiben vom 01.09.2006 mitgeteilt, dass ihm sein Reisepass nur bei Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei verlängert werden würde. Ersatzweise hätte der Angeklagte sich durch Zahlung eines Betrages von 7.600,00 € und Ableistung eines verkürzten Wehrdienstes von wenigen Wochen von der Wehrpflicht im Übrigen befreien lassen können. Die deutsche Staatsbürgerschaft will der Angeklagte beantragen, hat sie bisher aber nicht beantragt.
Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, die auf die Sachrüge gestützt ist und von dem Generalstaatsanwalt in München vertreten wird.
II. Die nach §§ 333, 337, 341 Abs. 1, 344, 345 Abs. 1 StPO zulässige Revision ist begründet.
Der Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hält rechtlicher Nachprüfung aufgrund der erhobenen Sachrüge nicht stand. Wegen illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft, wer entgegen § 3 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 48 Abs. 2 AufenthG sich im Bundesgebiet aufhält. § 3 Abs. 1 AufenthG statuiert die Passpflicht für Ausländer, die sich im Bundesgebiet aufhalten und von dieser Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind (die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AufenthG greifen vorliegend ebenso wenig ein wie die Ausnahme nach § 3 Abs. 1, 2. Alt. AufenthG). Nach § 48 Abs. 2 AufenthG genügt ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen, kann der Ausweispflicht mit der Bescheinigung über einen Aufenthaltstitel oder die Aussetzung der Abschiebung, wenn sie mit den Angaben zur Person und einem Lichtbild versehen und als Ausweisersatz bezeichnet ist. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 AufenthG liegen jedoch nicht vor. Denn die vom Berufungsgericht angeführten Gründe ergeben für den Angeklagten nicht die Unzumutbarkeit, sich von den türkischen Behörden einen Pass zu beschaffen.
1. Dass die Heimatbehörden des Angeklagten die Ausstellung eines neuen oder die Verlängerung eines abgelaufenen Passes von der Ableistung des Wehrdienstes abhängig machen, steht aufenthaltsrechtlich der Zumutbarkeit auch bei dem mit 37 Jahren im Leben fortgeschrittenen Angeklagten nicht entgegen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich der Angeklagte seit 27 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und möglicherweise nur noch geringe Bindungen zu seinem...