Verfahrensgang
LG München I (Aktenzeichen 29 O 7754/21) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21, abgeändert.
2. Die zulässige Klage macht gemäß §§ 174, 179 InsO die unter lfd. Nr. 5401 im Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. AG zur Tabelle angemeldeten kapitalmarktrechtlichen Schadensforderungen als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO geltend.
3. Die Berufung des Beklagten zu 1) wird zurückgewiesen.
4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.
Gründe
I. Die Parteien streiten im Wege der Tabellenfeststellungsklage und Widerklage über das Bestehen und den insolvenzrechtlichen Rang von der Klägerin geltend gemachter kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche, die sie im Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. AG (im Folgenden: Schuldnerin) angemeldet hat.
Zur Klage
Derzeit haben ca. 50.000 Aktionäre der Schuldnerin im Insolvenzverfahren Schadensersatzansprüche wegen des Aktienerwerbs in einem Volumen von ca. 8,5 Milliarden EUR zur Insolvenztabelle angemeldet. Insgesamt wurden Gläubigerforderungen im Umfang von ca. 15,4 Milliarden EUR angemeldet. In der Masse befinden sich aktuell ca. 650 Millionen EUR. Für die Anmeldung von solchen "Aktionärsforderungen" wurde bislang noch kein allgemeiner Prüfungstermin angesetzt und nur die Anmeldung der Klägerin vorgezogen geprüft. Den Schwerpunkt des vorliegenden Verfahrens bildet die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Rechtsfrage, ob kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche, wie sie die Klägerin hier beispielhaft verfolgt, Insolvenzforderungen nach § 38 InsO darstellen. Davon hängt es ab, ob und welche Quote andere Insolvenzgläubiger, die hier in der Person der Beklagten zu 2) repräsentiert sind, erwarten können.
Zu den Klageforderungen
Die Klägerin ist eine deutsche Kapitalanlagegesellschaft und verwaltet u.a. die im Folgenden (S. 4 ff) aufgeführten 33 unselbständigen Sondervermögen, für die sie im Zeitraum von 2015 bis zum 12.06.2020 Aktien der Schuldnerin auf dem Sekundärmarkt gekauft und zum großen Teil wieder verkauft hat. Der Beklagte zu 1) ist der durch das Amtsgericht München - Insolvenzgericht - mit Beschlüssen vom 29.06.2020 und 25.08.2020 bestellte Insolvenzverwalter der Schuldnerin (Anlagen B3 und B4). Die Beklagte zu 2) ist durch Beschluss des Amtsgerichts München - Insolvenzgericht - vom 13.11.2020 zur gemeinsamen Vertreterin der Gläubiger der von der Schuldnerin ausgegebenen Schuldverschreibung über EUR 500 Mio mit einer Verzinsung von 0,5 Prozent p.a. (ISIN ...Q5) bestellt worden (Anlage B7). Die Schuldnerin war eine im DAX gelistete Aktiengesellschaft, deren Geschäftsgegenstand die Erbringung von Dienstleistungen im (elektronischen) Zahlungsverkehr war.
Seit dem Jahr 2005 hatte die Schuldnerin wiederholt in Pressemitteilungen, Interviews, Ad-hoc-Mitteilungen, Konzernabschlussberichten und anderen Veröffentlichungen am Kapitalmarkt positiv über ihren Geschäftsverlauf berichtet. Am 18.06.2020 informierte die E & Y Gmbh Wirtschaftsprüfungsgesellschaft als Abschlussprüferin der Schuldnerin diese darüber, dass über die Existenz von angeblichen Bankguthaben auf Treuhandkonten der Schuldnerin aus dem sog. Dritt-Partner-Geschäft ("TPA-Geschäft") in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden EUR keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen seien. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verweigerte in der Folge die Erteilung eines positiven Testates für den Jahresabschluss 2019. Mit am 22.06.2020 veröffentlichter Ad-hoc-Mitteilung (Anlage K 31) teilte die Schuldnerin mit, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden EUR (1/4 des Gesellschaftsvermögens) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existierten. Am 25.06.2020 stellte die Schuldnerin Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dieses wurde durch das Amtsgericht München - Insolvenzgericht - mit Beschluss vom 25.08.2020 - Az. 1542 IN 1308/20 - eröffnet (Anlage B4).
Zum 18.06.2020 hielt die Klägerin in insgesamt 13 der klagegegenständlichen unselbständigen Sondervermögen noch in Summe 73.345 Aktien der Schuldnerin (Sondervermögen VBS I., DIV-Fonds Nr. ...58 Segment ...58, DEVIF-Fonds Nr. ...45, DEVIF-Fonds Nr. ...96, DEVIF-Fonds Nr. ...84, DEVIF-Fonds Nr. ...34, UIN-Fonds Nr . ...66, UIN-Fonds Nr. ...66, UIN-Fonds Nr. ...92, VBES-Fonds, UIN-Fonds Nr. ...03, UIN-Fonds Nr. ...66, UIN-Fonds Nr. ...77; vgl. insoweit Schriftsatz der Klägerin vom 28.02.2022, S. 12/13). Die Aktien der übrigen 20 klagegegenständlichen unselbständigen Sondervermögen waren zu diesem Zeitpunkt bereits veräußert. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin meldete die Klägerin am 26.10.2020 die im Folgenden genannten Forderungen als "Schadensersatzforderungen geschädigter Aktionäre aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung" für die von ihr verwalteten unselbständigen Son...