Leitsatz (amtlich)
›1. Bei der Entfernung eines Weisheitszahns ist die Durchtrennung des Nervus lingualis eine sehr seltene, aber typische und nicht immer vermeidbare Komplikation, über die der Zahnarzt den Patienten aufzuklären hat.
2. Zumindest dann, wenn es sich nicht um einen vereiterten oder sonst krankhaft veränderten, sondern lediglich um einen im Durchbruch behinderten (hier: aus der Zahntasche noch nicht in die Mundhöhle ausgebrochenen) Weisheitszahn handelt, der nur zeitweise Schmerzen bereitet, kann ein Entscheidungskonflikt des aufgeklärten Patienten nachvollziehbar sein, ob er sich durch den behandelnden Zahnarzt operieren lassen oder ob er zunächst eine medikamentöse Behandlung wählen werde.
3. 20.000 DM Schmerzensgeld für eine junge Patientin, bei der stationär ein erfolgloser Reanastomosierungsversuch (Transplantation eines Nervs aus dem Fußrücken in den verletzten Zahnbereich) vorgenommen worden ist und bei der als Dauerschäden eine Gefühllosigkeit der linken Zungenhälfte (mit der Folge häufiger Bißverletzungen und Behinderungen beim Sprechen und Essen) sowie Störungen des Geschmacksinns in diesem Bereich verblieben sind.‹
Tatbestand
Die Klägerin verlangt Schadensersatz nach einer zahnärztlichen Behandlung.
Der Beklagte behandelte die Klägerin ab Januar 1988 wegen Beschwerden im Bereich des unteren linken Weisheitszahnes (Z 38), der keinen ausreichenden Platz zum Durchbruch hatte und leicht renitent war. Bei der operativen Entfernung des Zahnes am 3.5.1988 wurde der auf der Innenseite des Unterkiefers verlaufende Nervus lingualis durchtrennt. Der Beklagte behandelte die Klägerin, die seit der Operation unter Gefühl- und Geschmacklosigkeit im linken Zungenbereich leidet, in Kenntnis einer möglichen Nervenschädigung bis 8.6.1988 medikamentös. Am 22.6.1988 wurde in der Universitätsklinik T im Rahmen eines stationären Aufenthalts vom 20.6. bis 2.7.1988 erfolglos versucht, bei der Klägerin durch Einfügung eines Teils des aus dem Fußrücken entnommenen Nervus suralis den durchtrennten Nervus lingualis zu überbrücken.
Die Klägerin hat dem Beklagten ärztliche Kunstfehler im Zusammenhang mit der Zahnoperation, die zu spät veranlaßte Reanastomosierung des Nervs, eine unzureichende Dokumentation sowie eine ungenügende Aufklärung über die Gefahr einer Nervenverletzung vorgeworfen und dafür angemessenes Schmerzensgeld (Größenvorstellung 20.000 DM)gefordert.
Der Beklagte hat behauptet, kunstgerecht vorgegangen zu sein. Er habe die Klägerin über die Operationsrisiken aufgeklärt; im übrigen habe sie angesichts ihrer Beschwerden keine Entscheidungswahl gehabt.
Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme u.a. mit der Begründung abgewiesen, ein Operationsfehler sei nicht feststellbar, der atypische Verlauf schicksalhaft. Eine frühere Nerventransplantation hätte nach Auffassung des Landgerichts die eingetretenen Folgen nicht verhindern können. Zum Vorwurf mangelnder Aufklärung hat das Landgericht ausgeführt, die Klägerin habe einen Entscheidungskonflikt nicht nachvollziehbar dargetan.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die den Standpunkt vertritt, die Nervenverletzung sei in jedem Fall schuldhaft, weil der Beklagte grob fehlerhaft die erforderlichen Schutzmaßnahmen unterlassen habe. Bei entsprechender Aufklärung hätte sie sich für konservative Maßnahmen entschieden oder eine Klinik aufgesucht.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien und der Beweisangebote wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen, auf die Sitzungsniederschriften und auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung ist begründet.
1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld von 20.000 DM, weil sie vom Beklagten nicht über ein typisches Risiko bei dem Entfernen eines Weisheitszahnes aufgeklärt und der operative Eingriff unter Mißachtung ihres Selbstbestimmungsrechts durchgeführt worden ist.
a)Der Arzt darf den Patienten nicht ohne dessen Einwilligung behandeln. Diese Einwilligung ist nur wirksam, wenn der Patient weiß, worin er einwilligt. Die Aufklärung soll ihm aufzeigen, was der Eingriff für seine persönliche Lage bedeuten kann. Der Patient soll Art und Schwere des Eingriffs erkennen. Auch über seltene Risiken ist aufzuklären, wenn sie für den Eingriff typisch, für den Laien jedoch überraschend sind.
Eine sachgemäße Aufklärung umfaßt im Einzelfall auch den Hinweis auf mit dem Eingriff nicht beabsichtigte, aber durch ärztliche Kunst nicht sicher vermeidbare Folgeschäden, für welche eine mehr oder minder große Möglichkeit besteht. Eine bis in Einzelheiten gehende medizinische Aufklärung ist nicht erforderlich, soweit ein Patient wegen der Natur und des Umfangs eines Eingriffs mit gewissen Gefahren für den Fall eines unglücklichen Verlaufs rechnen muß. Die Erwähnung selbst entfernter Komplikationsgefahren ist jedoch um so stärker geboten, je weniger der Eingriff aus der Sicht des Patienten vordringlich und geboten erscheint. Das trifft ...