Leitsatz (amtlich)
Die Haftung eines Mitkartellanten für einen Kartellverstoß setzt nicht zwingend voraus, dass die einzelnen Beschaffungsvorgänge Gegenstand (neuerlicher) ausdrücklicher Absprachen unter direkter Beteiligung des in Anspruch genommenen Mitkartellanten gewesen sind.
Normenkette
GWB 2005 §§ 1, 33 Abs. 1, 3 S. 1
Verfahrensgang
LG München I (Aktenzeichen 37 O 3331/15) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Teilend- und Grundurteil des Landgerichts München I vom 28. Juni 2017, berichtigt durch Beschluss vom 5. September 2017, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Der Klageantrag auf Schadensersatz ist dem Grunde nach gerechtfertigt bezogen auf die sechs klägerischen Beschaffungsvorgänge, für die die Klägerin der Beklagten am 19. März 2002, am 28. Januar 2003, am 11. Juni 2003, am 4. Oktober 2005, am 23. Januar 2007 und am 25. Februar 2011 den Zuschlag erteilt hat.
2. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
II. Der Rechtsstreit wird hinsichtlich des Beschaffungsvorgangs, für den die Klägerin der Beklagten am 25. Februar 2011 den Zuschlag erteilt hat, zur Entscheidung über den Streit über den Betrag des Schadensersatzanspruchs unter Aufhebung des Verfahrens an das Landgericht München I zurückverwiesen.
III. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
IV. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Nebenintervention zu tragen. Diese haben die Nebenintervenientinnen jeweils selbst zu tragen.
V. Dieses Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des jeweils vollstreckbaren Betrages abgewendet werden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Gründe
A. Die Klägerin macht kartellrechtliche Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte wegen deren Beteiligung an wettbewerbsbeschränkenden Absprachen geltend.
Die Klägerin ist das kommunale Versorgungs- und Dienstleistungsunternehmen der Stadt München. Sie benötigt zur Erfüllung ihrer Aufgaben Gleisoberbaumaterialien, unter anderem Schienen, Weichen und Schwellen. Im Zeitraum Januar 2001 bis Mai 2011 beschaffte sie Gleisoberbaumaterialien zu einem Gesamtbestellvolumen von 44.824.309,31 EUR.
Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin, die V. L. GmbH & Co. KG, die bis zum Jahr 2003 als W. L. GmbH & Co. KG firmierte (im Folgenden jeweils: die Beklagte), stellt Weichen her und liefert Gleisoberbaumaterialien unter anderem an kommunale Nahverkehrsunternehmen.
Von 2001 bis Mai 2011 beteiligten sich Hersteller und Händler von Schienen, Weichen und Schwellen auf dem Privatmarkt in Deutschland an wettbewerbsbeschränkenden Preis-, Quoten- und Kundenschutzabsprachen. Die Absprachen betrafen den Vertrieb von Schienen, Weichen und Schwellen insbesondere an Nahverkehrsunternehmen. Dabei ging es um die Aufteilung von Ausschreibungen bzw. Projekten unter den Kartellbeteiligten. Beteiligt an den Absprachen waren zahlreiche Unternehmen, wobei nicht alle Beteiligten auch alle betroffenen Produkte anboten und/oder bundesweit tätig waren. Diese Absprachen, die sich mit der Zeit hinsichtlich Struktur und Teilnehmer mit den Marktgegebenheiten veränderten, erfolgten regional in unterschiedlicher Intensität, aber immer mit dem selben Grundverständnis sowie mit vergleichbarem Ablauf und ähnlicher Umsetzung.
Mit Bescheiden vom 18. Juli 2013 verhängte das Bundeskartellamt Bußgelder gegen acht Hersteller und Lieferanten, unter anderem gegen die Nebenintervenientin zu 3) (vgl. Anlage B 9), die Nebenintervenientinnen zu 2) und 4) und die F. GmbH. Von der v. K. GmbH war das Kartell durch einen Kronzeugenantrag aufgedeckt worden. Mit den Nebenintervenientinnen zu 2), 3) und 4) und der F. GmbH kam es zu einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen der Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, in deren Rahmen diese geständige Einlassungen abgaben.
Das Bundeskartellamt stellte in einem gegen drei andere Kartellbeteiligte als die Beklagte erlassenen und bestandskräftigen Bußgeldbescheid vom 18. Juli 2013 insbesondere folgende Funktionsweise der Absprache fest (vgl. Anlage K 35, S. 16 ff.):
Die Absprachepraxis im Privatmarkt basierte maßgeblich darauf, dass den einzelnen Unternehmen bestimmte "Altkunden" bzw. Stammkunden zugeordnet waren. Diese Zuordnung der Kunden zu bestimmten Unternehmen wurde von den Kartellteilnehmern grundsätzlich respektiert. Sie "schützten" diese Unternehmen, indem sie bewusst auf die Abgabe von Angeboten verzichteten, diese erst nach Ablauf der Angebotsabgabefrist einreichten oder gezielt überteuerte Angebote abgaben, so dass der Auftrag an das "vorbestimmte" Unternehmen gehen konnte. Umgesetzt wurden die Absprachen vorwiegend über telefonische Kontakte und persönliche Treffen sowie E-Mails. Dabei war aufgrund der über Jahre praktizierten Absprachen und gewachsenen Kundenbeziehungen und -vorlieben allen Beteiligten von vornherein klar, wer den ausgeschriebenen Auftr...