Leitsatz (amtlich)
1. Der Verteidigung steht ein umfassendes Einsichtsrecht in die Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgerätes zu.
2. Die unzureichende Gewährung von Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung kann eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung im Sinne von § 338 Nr. 8 StPO darstellen.
Verfahrensgang
AG Dessau-Roßlau (Entscheidung vom 05.07.2012; Aktenzeichen 13 OWi 106/12) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 5. Juli 2012 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Dessau-Roßlau zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Betroffene ist durch Urteil des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 5. Juli 2012 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zur Geldbuße von 200,00 € verurteilt worden.
Hiergegen richtet sich der form- und fristgerechte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, mit dem die Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Der Senat hat durch Einzelrichterbeschluss vom 30. Oktober 2012 die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs zugelassen. Hiermit soll im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Gefahr begegnet werden, dass sich Fehler in Verfahren beim Amtsgericht Dessau-Roßlau wiederholen. Ohne eine Entscheidung des Senates ist mit weiteren abweichenden Entscheidungen des Amtsgerichts in gleich gelagerten Fällen zu rechnen. Darüber hinaus ist es geboten, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.
II. Die Rechtsbeschwerde hat mit der Verfahrensrüge Erfolg. Die Betroffene hat in ihrer Rechtsbeschwerde eine Versagung des rechtlichen Gehörs dargelegt (§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung und Verweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts. Der Senat will hiermit - entgegen seiner sonstigen Praxis - vermeiden, dass derselbe Amtsrichter noch einmal mit der Sache befasst ist (§ 79 Abs. 3, Abs. 6 OWiG i. V. m. § 354 Abs. 2 StPO).
Das Amtsgericht hat die Verteidigung der Betroffenen durch die Nichtbescheidung des Antrages des Verteidigers auf Aussetzung des Verfahrens (§ 228 Abs. 1 StPO) in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt unzulässig beschränkt (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i. V. m. § 338 Nr. 8 StPO) und hiermit gleichzeitig das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.
Der Verteidiger der Betroffenen hat in der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt, den er mit einer vorherigen unzureichenden Gewährung von Akteneinsicht (§ 147 Abs. 1 StPO) begründet hat. So sei ihm insbesondere keine ausreichende Einsicht in die Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes gewährt worden. Diesen Antrag hat der Richter im Bußgeldverfahren vor Urteilsverkündung nicht beschieden, was beim Einzelrichter einer Ablehnung durch Gerichtsbeschluss gleichzustellen ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Auflage 2012, § 229 Rdn. 17 mit Hinweis auf § 338 Rdn. 60).
Die Betroffene hat mit ihrer Rechtsbeschwerdebegründung im Weiteren dargelegt, dass ihrem Verteidiger im gerichtlichen Verfahren (und auch im Verwaltungsverfahren vor der Bußgeldbehörde) keine ausreichende Einsicht in die Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes gewährt worden ist. Das Amtsgericht führt hierzu im Urteil aus: "Der Verteidiger hat im Bußgeldverfahren keinen Anspruch auf Einsicht in die Bedienungsanleitung (Amtsgericht Detmold, Beschluss vom 04.02.2012, Az.: 4 OWi 989/11). Die zahlreichen von dem Verteidiger dem Messbeamten gestellten Fragen zeigen im Übrigen, dass die Stellung sachgerechter Fragen auch ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung möglich ist."
Dies ist nicht frei von Rechtsfehlern. Der Verteidiger hat im Rahmen eines Bußgeldverfahrens, das eine Geschwindigkeitsüberschreitung zum Gegenstand hat, das Recht auf Akteneinsicht in alle Unterlagen, die auch dem Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden (vgl. LG Ellwangen, Beschl. v. 14.12.2009 - 1 Qs 166/09 -; AG Gelnhausen, Beschl. v. 14.09.2012 - 44 OWi 2945 Js 1351/10; AG Verden, Beschl. v. 23.08.2010 - 9 b OWi 764/10 - jeweils zitiert nach juris; eine Rechtsprechungsübersicht findet sich in Burhoff, Dauerbrenner: (Akten-)Einsicht in Messunterlagen im OWi-Verfahren in VRR, 250 f.). Dies folgt schon aus dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (Art. 6 EMRK), der Stellung des Rechtsanwaltes als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) und dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit (vgl. LG Ellwangen, VRR 2011, 117). Nur wenn dem Verteidiger alle Unterlagen zur Verfügung stehen, die auch dem Sachverständigen zugänglich sind, ist es ihm möglich, das Sachverständigengutachten auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Darüber hinaus wäre ohne Akteneinsicht im geschilderten Umfang zwischen Betroffenem und der Ermi...