Leitsatz (amtlich)
1. Ein Bieter ist nach derzeitiger Rechtslage grundsätzlich nicht verpflichtet, die Verdingungsunterlagen bei Zugang unverzüglich auf etwaige Vergabeverstöße zu prüfen. Es ist auch im Hinblick auf § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht zu beanstanden, dass ein Bieter zunächst eine formale Prüfung der Verdingungsunterlagen durch eine Bürokraft veranlasst, bevor eine inhaltliche Befassung durch einen fachkundigen Mitarbeiter erfolgt.
2. Zur Verwirkung eines Nachprüfungsantrages (hier abgelehnt). Eine Bewerbungs- und Vergabebedingung, die die Teilnahme eines Bieters am Wettbewerb davon abhängig macht, dass der Bieter hinsichtlich des Inhalts der Verdingungsunterlagen auf Primärrechtsschutz verzichtet, ist unzulässig und unwirksam.
3. Die Vorschrift des § 97 Abs. 5 GWB ist darauf gerichtet, dass ein öffentlicher Auftraggeber eine an objektiven, willkürfreien und nicht manipulierbaren Kriterien orientierte Auswahl seines Vertragspartners nach der Einzelwirtschaftlichkeit des konkreten Angebots organisiert. Dies kann sowohl durch die Bestimmung des niedrigsten Preises für eine genau definierte Leistung als ausschließliches Wirtschaftlichkeitskriterium als auch durch die Bestimmung mehrerer Wirtschaftlichkeitskriterien für eine im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten bestmögliche Leistung erfolgen.
4. Eine Dokumentation der Gründe für die Entscheidung der Vergabestelle für eine Ausschreibung allein nach dem Kriterium des niedrigsten Preises ist vergaberechtlich jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn nach der konkreten Definition des Leistungs-Solls des Beschaffungsvorgangs sehr homogene, sich nur im Angebotspreis unterscheidende Angebote zu erwarten sind.
5. Das Gleichbehandlungsgebot und das Diskriminierungsverbot stellen Anforderungen an das Verhalten des öffentlichen Auftraggebers bei der Vorbereitung und Durchführung der Ausschreibung, d.h. dass der Auftraggeber die von ihm beeinflussbaren Rahmenbedingungen des Vergabeverfahrens unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gestaltet. Davon unberührt bleiben jedoch Umstände, die nicht auf seine Ausschreibung zurückzuführen sind, sondern insbesondere aus der regelmäßig unterschiedlichen Marktstellung der teilnehmenden Unternehmen resultieren.
6. Ein ungewöhnliches Wagnis i.S.d. Vergaberechts liegt nur vor, wenn die für den jeweiligen Vertragstyp rechtlich, wirtschaftlich bzw. technisch branchenübliche Risikoverteilung einseitig und nicht nur unerheblich zu Ungunsten des Auftragnehmers verändert vorgegeben wird (hier abgelehnt für eine Ausschreibung der Sammlung, Beförderung und Entsorgung von Restmüll im Hinblick auf eine satzungsmäßige Reduzierung der Zahl der Mindestentleerungen, auf fehlende Preisgleitklauseln für Kraftstoff und Personalkosten in einem 5-Jahres-Vertrag sowie auf ein beiderseitiges besonderes Kündigungsrecht).
7. Werden formelle Anforderungen an eine Verpflichtungserklärung eines anderen Unternehmens (hier: Notwendigkeit einer Originalunterschrift) nicht eindeutig benannt, so kann der Ausschluss eines Angebotes nicht darauf gestützt werden, dass nach einer von mehreren möglichen Interpretationen der mehrfach geänderten Bewerbungsbedingungen ein Ausschluss zulässig und ggf. geboten gewesen wäre.
Verfahrensgang
2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt (Beschluss vom 21.08.2008; Aktenzeichen 2 VK LVwA 9/08) |
Tenor
Auf die sofortigen Beschwerden des Antragsgegners sowie der Beigeladenen zu 1) und der Beigeladenen zu 2) wird der Beschluss der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt vom 21.8.2008, 2 VK LVwA 9/08, aufgehoben.
Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer sowie die Kosten des Beschwerdeverfahrens, jeweils einschließlich der außergerichtlichen Auslagen des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 1) und zu 2), hat die Antragstellerin zu tragen.
Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer (Gebühren und Auslagen) bleiben auf 4.643,65 EUR festgesetzt. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten war für den Antragsgegner und die Beigeladenen zu 1) und zu 2) auch im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer jeweils zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig.
Der Kostenwert des Beschwerdeverfahrens wird auf bis zu 260.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Antragsgegner, eine kommunale Gebietskörperschaft, schrieb im Februar 2008 einen Abfallentsorgungsauftrag mit einer Laufzeit von fünf Jahren (Ausführungszeit vom 1.1.2009 bis zum 31.12.2013) EU-weit im Offenen Verfahren auf der Grundlage der Verdingungsordnung für Leistungen (VOL) - Ausgabe 2006 - zur Vergabe aus. Der Auftrag ist in zwei Lose geteilt. Los 1 beinhaltet die Sammlung, den Transport und die Entsorgung von Restmüll, Sperrmüll u. Ä. in den Teilgebieten S., K. und A.; Los 2 umfasst die Sammlung, den Transport und die Verwertung von Altpapier im gesamten Kreisgebiet. Der Auftrag hat einen Nettoauftragswert von mehr als 4,5 Millionen Euro.
D...