Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Wahl der Therapie ist dem Arzt ein weites Ermessen eingeräumt. Die ärztliche Entscheidung ist nur dahin zu überprüfen, ob die gewählte Therapie dem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und fachärztlichen Erfahrungen entspricht, ob sie zur Erreichung des Behandlungsziels geeignet und erforderlich ist, und regelmäßig auch, ob sie sich in der fachärztlichen Praxis bewährt hat.
2. Ist die Behandlung einer Handgelenksverletzung mit mehreren medizinisch gleichermaßen indizierten Methoden konservativ und operativ möglich, ist aber die konservative Behandlung weitaus üblicher und hat sie gleiche oder zumindest nahezu gleiche Erfolgschancen, so stellt die Möglichkeit einer operativen Therapie für den Patienten keine Alternative dar, über die er vernünftigerweise mitentscheiden muss.
Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 22.12.2004; Aktenzeichen 7 O 223/03) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 22.12.2004 verkündete Urteil des LG Halle, 7 O 223/03, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer übersteigt 20.000 EUR nicht.
Gründe
I. Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen i.S.v. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO wird nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
II. Die Berufung der Klägerin ist zulässig; insb. wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Das LG hat zu Recht darauf erkannt, dass die Klägerin gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld hat. Der Beklagte hat bei der ambulanten chirurgischen Behandlung der distalen Radiustrümmerfraktur des rechten Handgelenks, also des Bruches der körperfernen Speiche mit streckseitiger Trümmerzone, im September und Oktober 1998 seine ärztlichen Pflichten nicht verletzt. Er hat auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens weder gegen den fachchirurgischen Behandlungsstandard verstoßen noch gegen seine Verpflichtung zur Eingriffsaufklärung.
1. Die Wahl der konservativen, d.h. auf die Selbstheilung des Körpers setzende Behandlung der Handgelenksverletzung der Klägerin durch den Beklagten ist unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden.
Bei der Wahl der Therapie ist dem Arzt ein weites Ermessen eingeräumt. Die Bewertung der ärztlichen Therapiewahl ist aus dem Blickwinkel des Behandlungszeitpunkts, nicht etwa unter Berücksichtigung nachfolgender Erkenntnisse, vorzunehmen. Die Beurteilung der Gegebenheiten des konkreten Behandlungsfalls ist häufig nur eingeschränkt rekonstruierbar. Der Arzt kann und soll insb. seine eigenen Erfahrungen in die Behandlung einbringen. Daher ist die Wahl der Therapiemaßnahme regelmäßig vor allem dahin zu überprüfen, ob die gewählte Therapie dem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und fachärztlichen Erfahrungen entspricht, ob sie zur Erreichung des Behandlungsziels geeignet und erforderlich ist, und regelmäßig auch, ob sie sich in der fachärztlichen Praxis bewährt hat. Diese Voraussetzungen sind hier eindeutig gegeben.
Nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen gibt es keinen medizinwissenschaftlichen Nachweis, dass eines der alternativen chirurgischen operativen Verfahren, insb. auch die Plattenosteosynthese bzw. die Spickdrahtosteosynthese, eine höhere Heilwirkung bzw. -chance haben. Trotz einer Vielzahl von einfachen, empirischen Studien sind diese Methoden gerade nicht evidenzbasiert, d.h. es ist bisher nicht gelungen, eine höhere Heilungschance durch qualifizierte Untersuchungsreihen nachzuweisen. Die primär konservative Behandlung auch komplizierter Handgelenksbrüche ist in der chirurgischen Praxis weit verbreitet und hat nach der fachärztlichen Erfahrung gleiche oder nahezu gleiche Erfolgschancen.
Dem steht nicht entgegen, dass der Gutachter im Schlichtungsverfahren vor dem Hintergrund seiner eigenen klinischen Erfahrungen eine operative Behandlungsmethode mit einem aufwendigen Zugang zum Operationsgebiet gewählt hätte. Diese Behandlungsmethode stand dem Beklagten für den Fall eines unbefriedigenden Heilungsverlaufs, insb. einer zunehmenden Instabilität des Handgelenks, noch zur Verfügung. Der Beklagte durfte bei seiner Entscheidung berücksichtigen, dass eine operative Versorgung der Verletzung einen wesentlich größeren Eingriff in die körperliche Integrität der Klägerin dargestellt hätte und erhebliche zusätzliche Risiken (Infektionen, Entzündungen, Embolien etc.) barg. Die spätere Ausbildung eines - für die Klägerin schmerzhaften - Karpaltunnelsyndroms konnte der Beklagte bei Behandlungsbeginn am 10.9.1998 noch nicht absehen. Dieses - verwirklichte - Risiko steht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang allein mit dem Unfalltrauma und der hierdurch verursachten Schwellung, jedenfalls nicht mit der Fehlstellung der Speiche. Es bestand daher unabhängig davon, ob der Beklagte - wie geschehen - konservativ oder operativ ...