Leitsatz (amtlich)
Der orthopädische Belegarzt ist nach dem medizinischen Standard im vertraglichen Behandlungsverhältnis verpflichtet, den Patienten am ersten Tag nach einer Wirbelsäulenoperation (hier: Laminektomie) neurologisch zu untersuchen. Unterbliebt diese Untersuchung bzw. wird sie verspätet durchgeführt, hat der Belegarzt diesen Befunderhebungsfehler auch dann zu vertreten, wenn er sich darauf verlassen hat, dass die Stationsärzte des Krankenhauses die Untersuchung im Zusammenhang mit der postoperativen Betreuung des Patienten durchführen.
Verfahrensgang
LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 24.08.2018; Aktenzeichen 4 O 435/16) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24. August 2018 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau teilweise aufgehoben:
Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt, soweit die Klägerin wegen der bei ihr am ersten postoperativen Tag (29. November 2012) unterlassenen ärztlichen neurologischen Untersuchung Schadensersatz verlangt.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Schäden (immaterieller Art nur, soweit sie derzeit nicht vorhersehbar sind, materieller Art nur, soweit der Ersatzanspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen ist oder übergeht) zu ersetzen, welche ihr aus der am ersten postoperativen Tag (29. November 2019) unterlassenen ärztlichen neurologischen Untersuchung erwachsen sind oder der Klägerin noch entstehen werden.
Die Sache wird im Betragsverfahren an das Landgericht Dessau-Roßlau zurückverwiesen, das auch über die Kosten der Berufung zu entscheiden hat.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
und beschlossen:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf die Gebührenstufe bis 110.000, - Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin ist von Beruf Altenpflegerin und litt vor der Behandlung durch den Beklagten seit Jahren an progredienten Rückenbeschwerden mit Ausstrahlung in beide Füße. Nach - im Ergebnis erfolgloser - konservativer Therapie (Krankengymnastik, Reha-Sport aber auch Verabreichung von Schmerzmitteln [ z.B. CT-gestützte periradikuläre Therapie rechts L4/L5 unter Applikation einer Ampulle Triam 40 im Gemisch mit 2 ml Bucain am 28.9.2012 gemäß Bericht Dr. G. ]) stellte sich die Klägerin mit einer Überweisung ihrer Hausärztin beim Beklagten am 2.11.2012 vor, der in Auswertung einer MRT-Aufnahme vom 26.4.2011 eine Spondylolisthesis im LWK 4/5 und LWK 5/S1, eine beidseitige Spondyarthrose in LWK 4/5 und LWK 5/S1, eine Dorsalprotrusion in LWK 3/4 sowie einen medialen Prolaps in LWK5/S diagnostizierte (Lumbalstenose LWK 3/4/5) und die Indikation für eine Laminektomie (LWK 4 + LWK 5 - Implantat je eines TLIF-Cages L3/4/5; dorsale Stabilisierung LWK 3/4/5) stellte. Am 13.11.2012 stellte sich die Klägerin erneut in der Praxis des Beklagten vor. Am 27.11.2012 wurde sie in die C. aufgenommen, wo der Beklagte am 28.11.2012 den Eingriff vornahm.
Im Operationsbericht vom 28.11.2012 heißt es (u.a.):
Duraverletzung. Versorgung mittels Duranaht. Die nochmalige Röntgenkontrolle zeigt eine regelrechte Lage des Implantats. Spülung mit Kochsalzlösung, schichtweiser Wundverschluss mit Hautnaht.
In der Dokumentation "Ärztliche Anordnungen / Visite" ist für den 30.11.2012 vermerkt
Fußheberparese re.
Es wurde eine CT-Kontrolluntersuchung veranlasst (nach dem Inhalt des Entlassungsberichts vom 4.12.2012 "notfallmäßig" durchgeführt), die eine Fehllage beider Schrauben
"intraspinale Schraubenlage der kaudalen Schrauben"
zeigte und zu einer sofortigen Revisionsoperation zur Korrektur der Schrauben LWK 5 beidseits und Dekompression LWK 4/5 beidseitig führte (gemäß OP-Bericht vom 30.11.2012), wobei auch eine Neurolyse durchgeführt wurde (gemäß Entlassungsbericht vom 4.12.2012). Es erfolgte die Mobilisierung unter Verwendung einer Peroneusschiene. Bei im Übrigen unauffälligem weiteren Verlauf wurde die Klägerin am 10.12.2012 aus der stationären Behandlung entlassen.
Es schloss sich eine Reha-Behandlung im Eisenmoorbad S. vom 27.12.2012 bis zum 17.1.2013 an (auf den an die Deutsche Rentenversicherung gerichteten Entlassungsbericht vom 21.1.2013 wird Bezug genommen).
Eine weitere Reha-Maßnahme erfolgte vom 18.2.2014 bis 11.3.2014 in der Klinik B. in K., wobei im Entlassungsbericht weiter als Diagnose (u.a.) eine Fußheberparese rechts und eine eingeschränkte Beweglichkeit und Belastbarkeit der Lendenwirbelsäule bei Spinalkanalstenose L3/4 und L4/5 bei Listhese L4/5 genannt werden.
Am 25.6.2014 wurde eine weitere MRT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule durchgeführt. Im Befundbericht heißt es:
Spondylodese LWK 3 und 4. Vetrolisthesis LWK 3 und 4 gegenüber LWK 2 und 5 von ca. 6 mm. Breitbasige Bandscheibenhernien LWK 2/3 und LWK 4 bis SWK 1. Keine Spinalkanalstenose. Ausgeprägte narbige Veränderungen im operativen Zugangsweg. fettige Degeneration der Rückenmuskulatur, Osteochondrose LWK 5 / SWK 1.
Die Klägerin hat behauptet, nicht über Alternativen zur Operation aufgeklä...