Leitsatz (amtlich)

1. Zwar werden an die Eigensicherung des Fahrgastes des öffentlichen Personennahverkehrs hohe Sorgfaltanforderungen gestellt. Gleichwohl besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass jeder Sturz während der Fahrt auf eine schuldhafte Verletzung der grundsätzlichen Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist.

2. Es stellt keine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht dar, wenn der Fahrgast nach dem Anfahren der Straßenbahn den Wagen zum Aufsuchen eines sicheren Sitzplatzes durchquert und sich dabei jeweils um festen Halt bemüht.

 

Verfahrensgang

LG Magdeburg (Urteil vom 25.02.2011; Aktenzeichen 5 O 1813/10)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 25.2.2011 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des LG Magdeburg wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

A. Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstands-pflicht für Schäden aus einem Unfallereignis vom 4.3.2010. Die Parteien streiten allein um die Frage, ob der Klägerin ein Mitverschulden an dem Unfall zur Last fällt.

Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen i.S.v. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO wird nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

B. Die Berufung der Beklagten ist zulässig; insbesondere ist sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Das LG hat zu Recht darauf erkannt, dass der Klägerin gegen die Beklagte ein Schadenersatzanspruch zu 100 % ihrer Schäden zusteht und insbesondere ein mitwirkendes Eigenverschulden am Zustandekommen des Unfalls nicht festzustellen ist.

I. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Schadenersatz wegen der Verletzung vertraglicher Pflichten aus § 280 Abs. 1 BGB.

Zwischen den Parteien des Rechtsstreits ist am Unfalltag konkludent ein Personenbeförderungsvertrag zustande gekommen, indem die Klägerin in die Straßenbahn der Linie 6 an der Haltestelle D. Platz in M. einstieg und ihren Fahrschein für eine Stadtfahrt entwertete. Die Beklagte hat die ihr im Rahmen dieses Vertrages obliegende Pflicht zur Vermeidung gefahrgeneigter Fahrmanöver verletzt. Der Führer der Straßenbahn, der Zeuge W., fuhr unmittelbar nach dem Einsteigen der Klägerin und ihrer zwei Begleiterinnen an, beschleunigte die Straßenbahn innerhalb von 20 Fahrmetern auf mehr als 20 km/h und führte an der etwa rechtwinkligen Linkskurve beim Abbiegen von der E. Allee in die G. Straße - nach Angaben der Beklagten wegen einer die Wartepflicht verletzenden entgegen kommenden Straßenbahn der Beklagten - eine Vollbremsung durch. Bei der Vollbremsung wurden ausweislich der Fahrdaten-Auswertung alle drei Bremssysteme zugleich eingesetzt; die Straßenbahn kam innerhalb von vier Fahrmetern zum Stillstand. Infolge der sehr intensiven Bremsung wirkte ein starker Ruckimpuls auf den Straßenbahnwagen und die Insassen. Hierdurch kam die Klägerin zu Fall und zog sich die im Urteil des LG beschriebenen Verletzungen zu, für welche die Parteien des Rechtsstreits im Falle einer 100-igen Haftung der Beklagten übereinstimmend ein Schmerzensgeld i.H.v. 6.000 EUR für angemessen und auch die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für künftige Schäden für begründet erachten.

II. Die Klägerin muss sich im Rahmen der Haftung der Beklagten für ihre Unfallschäden vom 4.3.2010 kein Mitverschulden anrechnen lassen. Die Beklagte hat den Nachweis eines mitwirkenden Eigenverschuldens der Klägerin nicht erbracht.

1. Es oblag der Beklagten, die tatsächlichen Umstände für ein Eigenverschulden der Klägerin darzulegen und zu beweisen.

Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt, so ist dies nach § 254 Abs. 1 BGB insbesondere beim Umfang des Schadenersatzes zu berücksichtigen. Die Darlegungs- und Beweislast für ein Mitverschulden des Geschädigten trägt der Schädiger.

2. Zugunsten der Beklagten streitet keine tatsächliche Vermutung eines Eigenverschuldens der Klägerin.

a) Allerdings werden an die Eigensicherung eines Fahrgastes im Öffentlichen Personennahverkehr hohe Sorgfaltsanforderungen gestellt. Nach § 4 Abs. 3 S. 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Omnibusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (BefBedV) und - gleich lautend - nach § 14 Abs. 3 Nr. 4 der Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr (BOKraft) ist jeder Fahrgast grundsätzlich verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. In der Rechtsprechung ist hinsichtlich des Maßes dieser Eigensicherung anerkannt, dass ein Fahrgast sich selbst gegen typische Fahrzeugbewegungen, darunter auch verkehrsbedingte Anhaltemanöver, ausreichend sichern muss.

b) Im Falle eines Sturzes aufgrund eines typischen Fahrmanövers kann sich ein Fahrgast auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Wagenführer einer Straßenbahn oder eines Omnibusses etwa...

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