Leitsatz (amtlich)
Lebt ein Patient jahrelang mit einer Behinderung, auf die er sich eingerichtet hat und erwägt dann den Versuch einer operativen Korrektur, der bei ihm angesichts der komplexen Ausgangslage mit einem nicht unerheblichen Risiko des Fehlschlagens behaftet ist, sogar bis hin zu einer Verschlechterung seines bisherigen Zustandes, so muss er darüber aufgeklärt werden, um ihm eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob er den Eingriff wagen oder lieber abwarten und mit seinen bisherigen Beschwerden einstweilen weiter leben will.
Verfahrensgang
LG Magdeburg (Urteil vom 21.04.2010; Aktenzeichen 9 O 1417/07) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 21.4.2010 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Magdeburg abgeändert.
Die Klage wird dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin zu 90 % sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aufgrund der Operation vom 28.8.2002 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Eine Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
Gründe
A. Die Klägerin nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz und Schmerzensgeldzahlung wegen behaupteter ärztlicher Behandlungsfehler und Aufklärungsversäumnisse im Zusammenhang mit der in der Klinik der Beklagten zu 1) am 28.8.2002 durch den Beklagten zu 2) durchgeführten dreifachen Becken-Osteotomie sowie der postoperativen Nachbehandlung in Anspruch. Ferner begehrt sie die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Folgeschäden aufgrund der Operation vom 28.8.2002.
Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer spastischen Tetraplegie (krampfhafte Lähmung der Gliedmaßen) mit Hüftdysplasie links (Mangelentwicklung - Abflachung - der Hüftgelenkspfanne).
Aufgrund einer Subluxation (Teilverengung) des linken Hüftgelenkes sowie einer displastischen Fehlentwicklung der Hüftpfanne unterzog sie sich im Jahre 1998 im Krankenhaus C. einer Korrekturosteotomie mit Anlage einer Winkelplatte. Da eine dauerhafte Verbesserung der Situation durch den Eingriff wegen des Grundleidens der Klägerin nicht erzielt werden konnte und eine weitere kraniale Auswanderung des Hüftkopfes eintrat, sollte eine dreifache Becken-Osteotomie (Durchtrennen der Knochen mit Meißel oder Säge) durchgeführt werden mit dem Ziel, eine Überdachung des Hüftkopfes und damit eine Stabilität der Beweglichkeit der Hüftpfanne zu erreichen.
Zu diesem Zweck begab sich die Klägerin am 27.8.2002 in das unter der Trägerschaft der Beklagten zu 1) geführte Universitätsklinikum in M.. Nach einem Aufklärungsgespräch unterzeichnete die Klägerin noch am gleichen Tage eine formularmäßig vorgedruckte Einverständniserklärung, die keinen Hinweis auf das Risiko einer postoperativen Verschlechterung des Beschwerdebildes enthielt. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf den in den Behandlungsunterlagen der Beklagten enthaltenen Vordruck "Einverständniserklärung" vom 27.8.2002 Bezug.
Am 28.8.2002 nahm der Beklagte zu 2) die dreifache Becken-Osteotomie vor.
Die Klägerin wurde am 10.9.2002 erstmals aus dem Krankenhaus in die häusliche Pflege entlassen. Da sich die Operationsnarbe entzündete, wurde sie jedoch am 19.9.2002 erneut wegen der aufgetretenen Wundinfektion zur stationären Behandlung aufgenommen. Nach der Entlassung am 7.10.2002 war die Klägerin über drei Monate bettlägerig und auf durchgängige Pflege durch ihre Familie angewiesen.
Wegen anhaltender Schmerzen konsultierte die Klägerin am 12.12.2002 erneut das Universitätsklinikum zur Nachuntersuchung. Im Rahmen einer Röntgenuntersuchung wurde kein auffälliger Befund festgestellt. In einer Nachfolgeoperation Anfang Januar 2003 entfernte der Beklagte zu 2) die im Rahmen der Osteotomie und Osteosynthese der Erstoperation eingebrachten Stahlstifte und Schrauben aus dem Operationsfeld.
Im Anschluss an die Operation wurde der Klägerin physiotherapeutische Behandlung mit Massagen verordnet, die sie bis zum heutigen Tage fortsetzt. In der Zeit vom 6.3.2003 bis zum 10.4.2003 nahm die Klägerin an einer Rehabilitationsmaßnahme teil, ohne dass jedoch eine spürbare Verbesserung ihrer Mobilität und eine Stabilisierung der Stand- und Gangphasen eintrat. Das angestrebte Ziel einer Optimierung der Pfannenstellung und des CE-Winkels konnte durch die Becken-Osteotomie nicht erreicht werden.
Mit Antragsschrift vom 12.2.2004 leitete die Klägerin vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammer in Hannover ein Schlichtungsverfahren ein. Auf der Grundlage des durch die Schlichtungsstelle eingeholten fachorthopädischen Gutachtens des Dr. med. B. vom 25.6.2005 und dessen ergänzender Stellungnahme vom 17.1.2006 gelangte die Schlichtungsstelle in ihrem Votum vom 4.7.2006 zu dem Ergebnis, dass der Eingriff nicht gelungen sei, und empfahl deshalb eine außergerichtliche Regulierung de...