Leitsatz (amtlich)
1. Handelt es sich bei Diagnoseirrtümern um eine zum Zeitpunkt der Diagnoseerstellung (sog. ex-ante Sicht) in der gegebenen Situation vertretbare Deutung der Befunde, stellt sich die objektive Fehlerhaftigkeit der Diagnose nicht als vorwerfbar dar und kann eine Haftung nicht begründen. Ein Fehler liegt daher erst dann vor, wenn die diagnostische Bewertung für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar erscheint.
2. Bei Diagnosefehlern ist von einem groben Behandlungsfehler erst dann auszugehen, wenn er fundamentaler Natur ist, das setzt voraus, dass die Interpretation des Befundes gänzlich unverständlich erscheint.
Beruht die fehlerhafte Diagnose darauf, dass der Arzt eindeutig gebotene Befunde nicht erhoben hat, stellt dies ein vorwerfbares Behandlungsversäumnis dar. Die Haftung richtet sich nach den von der Rechtsprechung entwickelten Regeln zum Befunderhebungsfehler
3. Eine Abweichung von der allgemein üblichen Standardmethode löst nicht per se eine Haftung des behandelnden Arztes aus. Bei der Therapiewahl ist dem behandelnden Arzt ein weites Ermessen eingeräumt falls praktisch gleichwertige Methoden zur Verfügung stehen. Dabei ist der Arzt auch berechtigt, eine Behandlungsmethode zu wählen, die nicht dem üblichen Standardverfahren entspricht, soweit die notwendige medizinische Abwägung der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer absehbaren und zu vermutenden Nachteile mit denen der standardgemäßen Behandlung die Anwendung rechtfertigt.
4. In diesem Fall ist über die verschiedenen Methoden und ihre jeweiligen Belastungen für den Patienten sowie ihre jeweiligen Risiken und Erfolgschancen aufzuklären.
Fehlt es an einer Aufklärung über die angewendete Alternativmethode und verwirklicht sich ein Risiko das sowohl dieser als auch der Standardmethode, über die aufgeklärt worden ist, immanent ist, so wirkt sich der Mangel der Aufklärung nicht haftungsbegründend aus.
Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 04.05.2010; Aktenzeichen 9 O 319/07) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 4.5.2010 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des LG Halle wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Die Beschwer des Klägers übersteigt 20.000 EUR.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Der Kläger nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Schadensersatz und Schmerzensgeldzahlung wegen einer nach seiner Behauptung fehlerhaft und ohne die notwendige Aufklärung mit der Zielstellung der Dekompression des Nervus ischiadicus in der Klinik der Beklagten zu 1) durch den Beklagten zu 2) durchgeführten Revisionsoperation in Anspruch. Ferner begehrt er die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Folgeschäden aufgrund der Operation vom 20.1.2005.
Der Kläger erlitt am 18.11.2002 auf der Bundesautobahn 4 in Höhe der Stadt G. einen Verkehrsunfall, bei dem er sich ein Polytrauma mit Luxationsfraktur der rechten Hüfte, eine Beckenringfraktur sowie eine Lungenkontusion und Scaphoidfraktur links zuzog. Zur Erstversorgung wurde er in das Kreiskrankenhaus G./O. eingeliefert, wo am 21.11.2002 die Luxationsfraktur der rechten Hüfte durch offene Reposition und Rekonstruktion sowie durch eine Plattenosteosynthese des hinteren Pfeilers rekonstruiert wurde. Nach Entlassung aus dem Kreiskrankenhaus unterzog sich der Kläger in der Zeit vom 17.12.2002 bis 21.1.2003 einer Rehabilitation in der Klinik am R.. Am 27.3.2003 stellte sich der Kläger erstmals im Hause der Beklagten zu 1) zu einer Kontrolluntersuchung vor. Aufgrund erheblicher Einschränkungen der Beweglichkeit im rechten Hüftgelenk mit einer massiven Schmerzsymptomatik wurde ihm ein erneuter operativer Eingriff empfohlen. Da sich eine Hüftnekrose rechts herausgebildet hatte, musste sich der Kläger in der Zeit vom 05.5. bis 14.5.2003 in stationäre Behandlung in das H. Klinikum in E. begeben. Dort wurde ihm am 6.5.2003 das gesamte Osteosynthesematerial aus der rechten Beckenhälfte operativ entfernt. Nach Wundheilung schloss sich im Juli 2003 ein weiterer stationärer Aufenthalt im H. Klinikum in E. an, in dessen Verlauf zunächst am 10.7.2003 vom linken Beckenkamm Spongiosamaterial entnommen und am 21.7.2003 am rechten Hüftgelenk eine Hüfttotalendoprothese mit Pfannenaufbauplastik vorgenommen wurde. Da der Kläger die Ansicht vertrat, dass das Implantat bei der Operation im Klinikum E. behandlungsfehlerhaft eingesetzt worden war und den Ischiasnerv chronisch kompromittierte, so dass ein Nervenkompressionssyndrom verursacht wurde, hat er einen Rechtsstreit gegen den Träger der H. Klinik E. vor dem LG E. unter dem Geschäftszeichen 10 O 330/07angestrengt und diesen ...