Leitsatz (amtlich)
1. Nicht jeder Diagnoseirrtum ist schon als Behandlungsfehler zu werten. Ein Verschulden des Arztes ist nur dann zu bejahen, wenn er aus seiner Sicht z. Zt. der Diagnosestellung entweder Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der gestellten Diagnose hatte oder aber solche Zweifel gehabt und diese nicht beachtet hat.
2. Ein Verstoß gegen die berufsfachlich gebotene Sorgfalt kann in der Unterlassung der zwingend gebotenen unverzüglichen Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus zur Erhebung der erforderlichen Befunde für eine weiter gehende Diagnostik liegen.
Verfahrensgang
LG Magdeburg (Aktenzeichen 8 O 1680/98) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28.7.2000 verkündete Urteil des LG Magdeburg, 8 (11) O 1680/98, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klage gegen den Beklagten zu 1) ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Der Beklagte zu 1) wird – im Wege des Teilurteils – verurteilt, an die Klägerin 4.232,88 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 10.7.1998 zu zahlen.
Die Klage gegen den Beklagten zu 2) wird abgewiesen.
Die Klägerin hat die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) im ersten Rechtszuge zu tragen; im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten zu 1) gem. der Klageanträge zu Ziff. 1) und 2) sowie über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten des Berufungsverfahrens, soweit hierüber jeweils noch nicht entschieden ist, an die 8. Zivilkammer des LG Magdeburg zurückverwiesen.
Die weiter gehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat auch die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) im Berufungsverfahren zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch den Beklagten zu 2) durch Sicherheitsleistung i.H.v. 25.000 DM abwenden, wenn nicht zuvor der Beklagte zu 2) Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Der Beklagte zu 1) kann die Zwangsvollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung i.H.v. 4.500 DM abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Die Beschwer der Klägerin sowie des Beklagten zu 1) übersteigen jeweils 60.000 DM; der Beklagte zu 2) ist nicht beschwert.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von den Beklagten, die ihren am 27.9.1952 geborenen Ehemann M.Z. an verschiedenen Tagen im Juni 1995 zu Hause als Ärzte des kassenärztlichen Hausbesuchsdienstes medizinisch versorgten, Schadenersatz wegen schuldhafter Verletzung ihrer ärztlichen Behandlungspflichten; das Verlangen der Klägerin ist auf entgangenen Unterhalt und auf den Ersatz der Beerdigungskosten für ihren Ehemann gerichtet. Die Klägerin meint, die Beklagten hätten gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstoßen, indem sie die tatsächliche Ursache der Beschwerden ihres Ehemannes – eine nekrotisierende Pankreatitis – nicht erkannten, dementsprechend nicht adäquat behandelten und indem sie ihren Ehemann vor allem nicht sofort in ein Krankenhaus einwiesen.
Im Einzelnen:
Am Freitag, dem 16.6.1995, begann der Rücken des Ehemannes der Klägerin (im Folgenden: Patient) stark zu schmerzen. Der Stuhlgang setzte aus. Da der Hausarzt der Familie, Dr. T., nicht zu erreichen war, wurde der Beklagte zu 2), der Dienst im Rahmen des kassenärztlichen Hausbesuchsdienstes verrichtete, zum Patienten gerufen. Der Beklagte zu 2) erschien erstmals gegen 17:00 Uhr zu einem Hausbesuch. Er untersuchte den Patienten, der ihm Schmerzen beider Nierenlager mit Ausstrahlung in den Unterbauch und Druckschmerz im Unterbauch anzeigte. Die Untersuchung durch den Beklagten zu 2) ergab einen Druckschmerz beiderseitig des Unterbauches bei freier Blase und Blutdruckwerten von 130 zu 80. Schmerzen im Nierenlager sowie ein so genannter „Gummibauch” waren zur Zeit der Untersuchung nicht vorhanden. Der Beklagte zu 2) maß eine Temperatur von 37,2 C und diagnostizierte den Verdacht eines beginnenden Infekts.
Da die Beschwerden des Patienten in der Folgezeit nach dem Besuch des Beklagten zu 2) nicht abklangen, rief die Klägerin den Beklagten zu 2) ein zweites Mal zum Hausbesuch. Der Beklagte zu 2) erschien daraufhin gegen 21:00 Uhr. Die Schmerzen waren zu diesem Zeitpunkt kolikartig, mit Druckschmerz in beiden Nierenlagern und im Unterbauch. Fieber trat nicht auf. Daraufhin stellte der Beklagte zu 2) die Verdachtsdiagnose einer Pyelonephritis (d.h. einer Harnwegsinfektion) und verordnete die Medikamente Dolocontral, Buscopan und Ciprobay.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob sich nach dem zweiten Hausbesuch des Beklagten zu 2) kurzfristig eine Besserung des Allgemeinbefindens des Patienten einstellte oder nicht. Die Klägerin behauptet eine Fortdauer der Beschwerden ihres Ehemannes und gibt an, dass dieser sich in der Nacht zum Samstag, dem 17.6.1995, erbrochen habe. Jedenfalls forderte die Klägerin am Nachmittag des 17.6.1995 einen erneuten Hausbesuch des Notdienstes an, den nunmehr der...