Leitsatz (amtlich)
1. Der nach dem Notarzt hinzugezogene Arzt des kassenärztlichen Notdienstes muss sich bei seiner Anamnese mit der vorangegangenen Notarztbehandlung befassen und nach der Entwicklung der dort geschilderten und dokumentierten Beschwerden fragen.
2. Das Unterlassen einer ordnungsgemäßen Anamnese führt selbst als einfacher Befunderhebungsfehler nicht zur Umkehr der Beweislast für die haftungsbegründende Kausalität, wenn die gebotene Nachfrage keinen gravierenden und reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte (hier im Hinblick auf den Vorderwandherzinfarkt einer Frau Mitte 30, ohne bekannte vaskuläre Erkrankungen, bei belastungsunabhängigen Beschwerden, normalem Blutdruck, unauffälliger Atmung, fehlender Atemnot, fehlender Übelkeit und keiner schweißigen Haut).
Verfahrensgang
LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 28.04.2017; Aktenzeichen 4 O 469/13) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 28.04.2017 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau (4 O 469/13) wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der Kosten der Streithelferin.
Dieses und das angefochtene Urteil des Landgerichts sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des nach den Urteilen vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
und beschlossen:
Der Streitwert wird auf 347.254,12 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die 1973 geborene Klägerin nimmt, vertreten von ihrem Ehemann als Betreuer, mittlerweile nur noch den Beklagten wegen behaupteter ärztlicher Fehlbehandlung auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, auf materiellen Schadensersatz und auf Feststellung künftiger Ersatzpflicht in Anspruch.
Die Klägerin, die Mutter dreier minderjähriger Kinder ist, kehrte in den frühen Morgenstunden am Samstag, den 21.06.2009 nach einer Feier nach Hause zurück. Im Verlaufe der vorangegangenen Stunden hatte sie u. a. alkoholische Getränke zu sich genommen. Im Treppenaufgang des Wohnhauses klagte sie über plötzlich auftretende Schmerzen in der Brust.
Die die Klägerin begleitenden Freundinnen alarmierten um 2.30 Uhr den Notarzt, woraufhin Herr Dr. L. als diensthabender Arzt gegen 2.50 Uhr eintraf. Er untersuchte die Klägerin und fertigte ein 12-Kanal-EKG. Im Notarzteinsatzprotokoll (Anlage K 2, Anlagenband) heißt es unter "Notfallgeschehen/Anamnese/ Erstbefund" u. a.:
"Sie habe seit ca. 1 h Schmerzen unter den Armen + vorn im Brustkorb stechende Schmerzen mit Ausstrahlung in beide Arme."
Als Diagnose ist festgehalten:
"vertebragene Schmerzen vom HWS ausgehend".
Als Ergebnis des EKG ist "Sinusrhythmus" angegeben. Die Atmung wird als "unauffällig" beschrieben. Herr Dr. L. verordnete die Einnahme von Ibuprofen 600 mg und die Applikation von Wärme. Sofern keine Besserung eintrete, sollte der kassenärztliche Bereitschaftsdienst angerufen werden.
Weil sich die Klägerin bis zum Mittag nicht besser fühlte, alarmierte ihr Ehemann den kassenärztlichen Notdienst. Die Leitstelle D. informierte den Rettungssanitäter L. bzw. den Beklagten, der zu diesem Zeitpunkt als Arzt für Allgemeinmedizin den Bereitschaftsdienst wahrnahm, und erteilte den Auftrag, einen Hausbesuch durchzuführen. Der Beklagte gab in seiner Stellungnahme vom 10.12.2009 gegenüber der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen, Hannover (Anlage K 11, Anlagenband Klägerin) dazu an, ihm sei der Einsatz "wegen Brustschmerzen" durch die Leitstelle D. telefonisch um 11.35 Uhr übermittelt worden. Als der Beklagte gegen 12.20 Uhr bei der Klägerin eintraf, war sie bei vollem Bewusstsein und zeitlich und örtlich orientiert. Der Beklagte sah sich das in der Nacht erstellte Notarztprotokoll und das EKG an. Er ermittelte den Blutdruck, der mit 130/80 mmHg im Normbereich lag, und stellte fest, dass keine Atemnot bestand. Bei der körperlichen Untersuchung gab die Klägerin Schmerzen im Oberbauch an und der Beklagte stellte einen Druckschmerz im Epigastrium fest. Er stellte die Verdachtsdiagnose einer Gastritis und verordnete Novaminsolfon sowie Pantoprazol. Abschließend verwies er die Klägerin an ihren Hausarzt. Bei Verschlechterung ihres Zustandes sollte sie sich erneut beim Notdienst melden.
Etwa 30 Minuten später fand der Ehemann der Klägerin diese in nicht mehr ansprechbarem Zustand vor. Der alarmierte Rettungswagen traf um 13.11 Uhr bei der Wohnung der Klägerin ein. Der um 13.16 Uhr eingetroffene Notarzt reanimierte die Klägerin. Bei der Einlieferung in das Städtische Klinikum D. um 13.39 Uhr wurde ein akuter Herzstillstand aufgrund eines akuten Vorderwandherzinfarktes diagnostiziert. Infolge des durch den Herzstillstand verursachten Kreislaufstillstandes kam es zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns. Die Klägerin erlitt einen hypoxischen Hirnschaden mit symptomatischer Epilepsie. Sie leidet seitdem an einer sensomotorischen Aphasie (an einer zentralen Sprac...