Leitsatz (amtlich)
1. Die Anforderungen an die berufsspezifischen Sorgfaltspflichten eines Arztes richten sich nicht nach dem Fachgebiet des behandelnden Arztes, sondern nach dem Fachgebiet, in das die vorgenommene Behandlung fällt. Zwar werden beide Fachgebiete regelmäßig übereinstimmen; dies trifft jedoch beispielsweise dann nicht zu, wenn ein Arzt eine Behandlung übernimmt, die überhaupt nicht in sein eigenes Fachgebiet fällt, oder wenn er eine interdisziplinäre Behandlung vornimmt.
2. Für die Zuordnung einer bestimmten ärztlichen Behandlung zu einem medizinischen Fachgebiet genügt regelmäßig der Rückgriff auf den Inhalt der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer des Landes (in der jeweils aktuellen Fassung; vgl. auch LSG Nds., Urt. v. 23.4.1997 – L 5 Ka 89/95, zitiert nach Juris); insb. in Zweifelsfällen kann sich das Gericht jedoch auch sachverständiger Hilfe bedienen.
3. Jedenfalls vor schwer wiegenden Ablationen (d.h. Gewebsentfernungen) und vor Maßnahmen, die – wie hier die bewusste Opferung des Nervus hypoglossus links und des Nervus lingualis links – postoperativ Körperfunktion und Lebensführung des Patienten beeinträchtigen, muss die Diagnose, auf der der Eingriff beruht, vorab grundsätzlich gesichert sein.
Verfahrensgang
LG Magdeburg (Aktenzeichen 9 O 125/99) |
Tenor
Unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten wird das am 9.4.2002 verkündete Urteil des LG Magdeburg, 9 O 125/99, wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 26.000,00 Euro nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 30.4.1999 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus der Durchtrennung des linksseitigen Nervus hypoglossus und des linksseitigen Nervus lingualis des Klägers am 24.6.1996 resultieren, soweit diese Ansprüche nicht bereits auf Dritte, insb. Sozialversicherungsträger, übergegangen sind.
Die Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beklagten zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Beklagten übersteigt 20.000 Euro.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von den Beklagten als Gesamtschuldnern Schadenersatz wegen behaupteter Fehler der ärztlichen Behandlung im Rahmen einer am 24.6.1996 durchgeführten Operation.
Anfang Juni 1996 stellten sich beim Kläger eine Schwellung im Unterkieferbereich und Schluckbeschwerden ein. Er begab sich zunächst in ambulante allgemeinärztliche Behandlung unter konsiliarischer Einbeziehung eines ambulanten HNO-Arztes und ambulanter Untersuchungen im Krankenhaus (u.a. Sonographie, Computertomographie); dort wurde die zunehmende Schwellung als Mundbodenphlegmone (d.h. als eine sich diffus ausbreitende eitrige Zellgewebsentzündung) gedeutet. Die deswegen vorgenommene antibiotische und analgetische Medikation blieb wirkungslos; Schwellung und Schluckbeschwerden nahmen weiter zu, der Allgemeinzustand des Klägers verschlechterte sich. Darauf hin wurde der Kläger zur stationären Behandlung in das Städtische Klinikum M. überwiesen, dessen Trägerin die Beklagte zu 2) ist.
Am 21.6.1996 erfolgte die Aufnahmeuntersuchung in der HNO-ärztlichen Abteilung des vorgenannten Krankenhauses. Danach war die Mundöffnung reduziert, der Zungengrund gerötet und vorgewölbt, submandibulär (d.h. unterhalb des Unterkiefers) war eine große, prall elastische Schwellung erkennbar. Als Verdachtsdiagnosen wurden zunächst ein Mundbodentumor oder eine mediane Halszyste in Betracht gezogen. Eine weitere sonographische Untersuchung zeigte eine 30 × 40 × 30 mm große echoarme Raumforderung ohne eindeutige zystische Charakteristika. Nach seiner klinischen Untersuchung stellte der Beklagte zu 1), der als Chefarzt der HNO-ärztlichen Abteilung im o.a. Krankenhaus der Beklagten zu 2) tätig ist, die Diagnose „Mundbodentumor mit Lymphknoten in beiden Gefäßscheiden” und entschied sich für eine sofortige Operation. Die Operationsaufklärung erfolgte hinsichtlich einer Tumorentfernung im Bereich Hals/Mundboden mit Revision beider Halsgefäßscheiden; als typische Komplikationen wurden dabei u.a. auch Verletzungen der Geschmacks-, Zungen- und Schulterhebenerven angeführt. Der Kläger willigte in die beabsichtigte Behandlung einschl. eventueller intraoperativ indizierter Erweiterungen ein.
Am 24.6.1996 wurde der Kläger vom Beklagten zu 1) operiert. In der Vorkritik des Operationsprotokolls heißt es, dass insgesamt an Hand der bisherigen Befunde eine Differenzierung zwischen einer organisierten Mundbodenphlegmone und einem bösartigen Tumor nicht gelungen sei. Zu Beginn der Operation stellte der Beklagte zu 1) Verwachsungen der Schwellung mit umliegenden Gewebestrukturen und zum Unterkiefer fest. Ei...