Leitsatz (amtlich)
1. Ist ein erforderliches Aufklärungsgespräch mit einem Patienten unterblieben, so trägt der Arzt die Beweislast dafür, dass der Patient in die Behandlung (hier Operation) auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in jedem Fall eingewilligt hätte (hypothetische Einwilligung).
2. Es ist ein Verfahrensfehler, einen Entscheidungskonflikt zu verneinen ohne den Patienten zu seinen Beweggründen persönlich angehört zu haben. Eine unterlassene Anhörung ist deshalb im Berufungsverfahren nachzuholen.
3. Zwar ist es nicht auszuschließen, dass sich ein Patient aus nicht gerade vernünftigen, jedenfalls aber nachvollziehbaren Gründen gegen eine Behandlung entscheidet. Das Gegenteil ist aber ebenfalls möglich und in der Regel nahe liegend, nämlich, dass er sich für die vernünftige Möglichkeit entschieden und einer Behandlung zugestimmt hätte.
Verfahrensgang
LG Magdeburg (Urteil vom 15.09.2010; Aktenzeichen 9 O 2403/08) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 15.9.2010 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Magdeburg wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beschwer des Klägers übersteigt 20.000 EUR.
und beschlossen:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf die Gebührenstufe bis 110.000 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Der Kläger macht Arzthaftungsansprüche geltend.
Er leidet seit 1989 unter Diabetes mellitus. Im Herbst 2004 kam es bei dem Kläger zu einer allmählichen Sehverschlechterung auf dem rechten Auge, so dass ihn seine Augenärztin am 21.12.2004 an die Augenklinik der Beklagten zu 1) überwies. Bei einer Untersuchung wurde dort ein Loch in der zentralen Netzhaut des rechten Auges festgestellt und dem Kläger eine Operation mit Entfernung des Glaskörpers des rechten Auges vorgeschlagen. Der Kläger wurde daraufhin am 18.1.2005 stationär aufgenommen und unterzeichnete am selben Tage eine Einwilligung in die geplante Operation auf dem hierfür vorgesehenen Vordruck. Am 19.1.2005 wurde der Kläger von dem Beklagten zu 2) wie geplant operiert, wobei eine Gasfüllung des rechten Auges vorgenommen wurde. Wegen einer auftretenden Netzhautablösung am rechten Auge musste der Kläger am 12.4.2005 erneut operiert werden. Dabei wurde die Netzhaut wieder angelegt. Trotzdem kam es nicht zu einer Verbesserung der Sehschärfe sondern zu einer vollständigen Erblindung auf dem rechten Auge.
Der Kläger hat die Beklagten für den Sehkraftverlust verantwortlich gemacht und behauptet, die Operationen seien durch den Beklagten zu 2) fehlerhaft durchgeführt worden und auch die Nachbehandlung sei nicht ordnungsgemäß erfolgt. Außerdem sei er über das operative Vorgehen mit den einhergehenden Risiken einer vollständigen Erblindung nicht aufgeklärt worden. Wären ihm die hohen Risiken der Operationen bewusst gewesen, hätte er dem operativen Eingriff nicht zugestimmt. Der Kläger hat deshalb mit der vorliegenden Klage die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, mindestens 50.000 EUR, den Ersatz eines Haushaltsführungsschadens sowie entstandener Fahrtkosten i.H.v. insgesamt 48.785,46 EUR geltend gemacht und außerdem die Feststellung einer Ersatzpflicht der Beklagten für sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden verlangt.
Die Beklagten haben eine fehlerhafte Behandlung bestritten und behauptet, der Kläger sei in jeder Hinsicht über die beabsichtigte Behandlung und die Operationen und die damit einhergehenden Risiken aufgeklärt worden. Im Übrigen habe ein Entscheidungskonflikt nicht bestanden, da es in Anbetracht der bereits hochgradig eingeschränkten Sehschärfe des rechten Auges zu einer Operation keine Alternative gegeben habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten, der erstinstanzlichen Anträge der Parteien und des Ergebnisses der erstinstanzlichen Beweisaufnahme wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Mit Urteil vom 15.9.2010 hat das LG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der Feststellungen und Ausführungen des vom Gericht beauftragten Sachverständigen seien die Operationen lege artis durchgeführt worden. Eine sinnvolle Behandlungsalternative habe aus medizinischer Sicht nicht bestanden. Den Einwand des Klägers, ein Aufklärungsgespräch habe vor der ersten Operation nicht stattgefunden und er sei über die Risiken nicht ausreichend aufgeklärt worden, hat die Kammer unter Hinweis auf den von ihm unterzeichneten Aufklärungsbogen als nicht erheblich angesehen. Darin habe er schriftlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich ausreichend aufgeklärt fühle, ausreichend Bedenkzeit gehabt habe und in die geplante Operation einwillige. Eine Nichtoperation sei keine echte Alternative gewesen...