Leitsatz (amtlich)
Beruft sich bei einer tätlichen Auseinandersetzung der Schädiger auf Unzurechnungsfähigkeit, trägt er dafür und für den Zeitpunkt ihres Eintritts die Beweislast. Ist dieser Nachweis geführt, kommt eine Haftung nur noch unter den Voraussetzungen der "actio libera in causa" in Betracht, welche wiederum der Geschädigte darlegen und ggf. beweisen müsste.
Verfahrensgang
LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 24.02.2012; Aktenzeichen 4 O 530/10) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 24.2.2012 verkündete Urteil des LG Dessau-Roßlau (4 O 530/10) wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
und beschlossen:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf die Gebührenstufe bis 9.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger macht gegen den Beklagten Ansprüche aus einer körperlichen Auseinandersetzung am 12.12.2008 (gegen 14.15 Uhr) in der Straßenbahnlinie 1 in D. geltend. Der Kläger war zum damaligen Zeitpunkt Schüler und 15 Jahre alt. Der Kläger saß bereits in der vollbesetzten Straßenbahn und hörte ohne Kopfhörer über sein Handy Musik. An der Haltestelle K. Straße stieg der Beklagte zu und fand einen freien Platz, der vorn am Eingang lag (Anhörung gemäß Protokoll vom 12.1.2012, S. 2). Der Kläger saß - wohl - im hinteren Teil der Straßenbahn, nach dem Vortrag der Berufung (BB S. 4) etwa 10-15 m vom Beklagten entfernt. Nach dem eigenen Vortrag des Beklagten fühlte sich dieser durch die Musik genervt (Protokoll, a.a.O.). Er stand auf und ging zum Kläger um diesen höflich zu fragen (Protokoll, a.a.O.), ob dieser die Musik nicht ausstellen oder leiser machen könne. Darauf habe der Kläger erwidert, halt die Fresse und setzt dich wieder hin. Demgegenüber hat der Kläger bei seiner Anhörung (Protokoll S. 1) erklärt, er habe gesagt, bleiben sie doch mal ruhig, bleiben sie sitzen. Die Musik wurde nicht abgeschaltet. Weiter nach den eigen Angaben hat der Beklagte dem Kläger nach dem Wortwechsel 2 oder 3 Ohrfeigen versetzt und es kam zu weiteren körperlichen Auseinandersetzungen (u.a. warf der Beklagte ein Schlüsselbund nach dem Kläger, traf aber nicht), bevor der Beklagte nach dem Eingreifen von zwei Fahrgästen und der Zeugin F. vom Kläger abließ. Der Kläger erlitt neben verschiedenen Schürfwunden eine metacarpale-IV-Schaftfraktur der linken Hand, die bis heute zu Bewegungseinschränkungen führt.
Der Kläger verlangt ein Schmerzensgeld von wenigstens 6.500,- Euro, er macht Aufwendungen im Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung geltend (421,35 EUR; Vereinzelung Klageschrift S. 6/7 [Bl. 6/7 I]) und begehrt die Feststellung, dass der Beklagte auch zum Ersatz aller möglichen künftigen Schäden verpflichtet ist.
Der Beklagte, der an einer Morbus Wilson Erkrankung leidet, wendet Schuldunfähigkeit ein. Das LG hat zur Verantwortlichkeit des Klägers zum Tatzeitpunkt ein psychiatrisches Gutachten eingeholt (Bl. 76 ff.), das zu folgendem Ergebnis gelangt:
Herr W. (= Beklagter) war aus psychiatrischer Sicht zum Tatzeitpunkt in Folge der Affekt- und Verhaltensstörungen durch das organische Psychosyndrom auf dem Boden seines Morbus Wilson nicht in der Lage, seine Affekte und sein Verhalten nach erfolgter Provokation ausreichend zu steuern und auf die Situation angemessen zu reagieren; das bedeutet aus psychiatrischer Sicht, dass er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit i.S.v. § 827 BGB befunden hat.
Der Beklagte wurde seit etwa 2 - 3 Wochen vor der Tat mit dem Mittel Risperidon (0,5 mg/Tag) behandelt (dabei handelt es sich um ein Mittel aus der Gruppe der Neuroleptika, das u.a. bei aggressiven Verhaltensstörungen eingesetzt wird [nach Wikipedia]). Eine Verhaltenstherapie hat er vor der Tat nicht gemacht.
Von der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird gem. § 540 Abs. 2 ZPO abgesehen.
Das LG hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lägen die Voraussetzungen von § 827 S. 1 BGB im Hinblick auf die Erkrankung des Beklagten vor. Demgegenüber könne kein Fall von § 827 S. 2 BGB angenommen werden und zwar auch nicht in analoger Anwendung, weil der Beklagte das ihm verordnete Mittel Risperidon regelmäßig eingenommen habe. Es komme auch keine Schuldvorverlagerung unter dem Gesichtspunkt einer actio libera in causa in Betracht. Dies folge zum einen daraus, dass vom Beklagten nicht verlangt werden könne, jeder normalen Lebenssituation aus dem Weg zugehen. Es fehle aber jedenfalls am Nachweis, dass der Beklagte zu einem Zeitpunkt, als er noch verantwortlich war, die erforderliche Vorstellung von einer bestimmten Rechtsgutverletzung gehabt habe. Die Voraussetzungen von § 829 BGB lägen schon im Hinblick auf die finanzielle Situation des Beklagten nicht vor.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung. Das LG zergliedere den Gesamtsachverhalt zu Unrecht in den Teil, in dem der Beklagte nicht mehr verantwortlich...