Leitsatz (amtlich)
Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der "Schwere der Tat" im Sinne des § 14 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.
Verfahrensgang
AG Magdeburg (Entscheidung vom 10.01.2013; Aktenzeichen 14 Ds 240/12) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Magdeburg vom 10. Januar 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (Tatzeit: 3. Juni 2011) zur Freiheitsstrafe von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt und das Verfahren beanstandet. Insbesondere rügt er, dass die Hauptverhandlung in Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden hat, obwohl ein solcher notwendig war (Verstoß gegen §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO). Hierzu ist vorgetragen und erwiesen:
Parallel zum hier anhängigen Verfahren war beim Amtsgericht - Jugendschöffengericht- Magdeburg eine weitere Sache anhängig. Mit Anklage vom 31. Mai 2012 lag dem Angeklagten eine weitere gefährliche Körperverletzung (Tatzeit: 2. Juli 2011) zur Last. Die Zuständigkeit des Jugendgerichts folgte aus dem Alter eines Mitangeklagten. In jenem Verfahren hatte der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts dem Angeklagten mit Beschluss vom 19. Juli 2012 Rechtsanwalt F. wegen der "Schwere der Tat" gemäß § 140 Abs. 2 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt. In jener Sache war Termin zur Hauptverhandlung auf den 9. April 2013 anberaumt.
Dies teilte der Verteidiger dem Strafrichter vor der Hauptverhandlung mit und beantragte seine Bestellung zum Pflichtverteidiger, dies wurde abgelehnt, die Hauptverhandlung fand ohne einen Verteidiger statt.
II.
Das Rechtsmittel dringt mit der Verfahrensrüge, die Hauptverhandlung habe ohne Mitwirkung eines Verteidigers stattgefunden, obwohl dem Angeklagten gemäß § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger hätte beigeordnet werden müssen, durch.
1. Die Verfahrensrüge ist entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft formgerecht erhoben worden. Zwar ist es überflüssig und für den Senat lästig, dass die Revision sämtliche Anklagen, Beschlüsse und Hauptverhandlungsprotokolle nicht einfach, sondern doppelt mitteilt. Der Mitteilung des Hauptverhandlungsprotokolls hätte es überhaupt nicht bedurft, für die Rüge hätte es ausgereicht, mitzuteilen, dass kein Verteidiger in der Hauptverhandlung zugegen war. Gleichwohl erschließen sich aus dem Revisionsvortrag die "den Mangel enthaltenden Tatsachen" (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), hier die Tatsache, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung unverteidigt war, was nach § 140 Abs. 2 StPO nicht hätte sein dürfen. Der Mitteilung des Beschlusses, durch den das Amtsgericht die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt hat, und des auf die daraufhin eingelegte Beschwerde ergangenen Beschlusses des Landgerichts bedurfte es insoweit nicht.
2. Dem Angeklagten war gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der "Schwere der Tat" ein Verteidiger beizuordnen. Nach zutreffender Auffassung ist jedenfalls eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers (Meyer-Goßner, StPO, 55. Auflage, Rdnr. 23 zu § 140). Die Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie "nur" wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird. Die hier verhängte Strafe ist im Falle ihrer Rechtskraft mit der wegen der Tat vom Juli 2011 zu erwartenden Strafe, deren Rechtskraft vorausgesetzt, gesamtstrafenfähig. Im Verfahren vor dem Jugendschöffengericht hat der Angeklagte, wie sich aus dem Beiordnungsbeschluss vom 19. Juli 2012 ergibt, bereits wegen der ihm dort zur Last gelegten Tat eine Freiheitsstrafe zur erwarten, die die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der "Schwere der Tat" gemäß § 140 Abs. 2 StPO gebietet. Jene Strafe wird - rechtskräftige Verurteilung in beiden Verfahren vorausgesetzt - durch Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus hiesigem Verfahren noch höher. Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne des
§ 140 Abs. 2 StPO ist stets zu berücksichtigen, ob gegen den Beschuldigten auch weitere Verfahren anhängig sind, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (OLG Hamm, StV 2004, Seite 586; KK-Laufhütte, 6. Auflage, Rdnr. 21 zu § 140). Daraus folgt: Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der "Schwere der Tat" im Sinne des § 14 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten, nämlich der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht,...