Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsverteilung bei Verkehrsunfall nach außerplanmäßigem Ausstieg eines Kindes aus einem Bus auf der Landstraße
Tenor
Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zu 1. und 2. wird das am 12. August 2016 verkündete Grundurteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Halle teilweise abgeändert und, wie folgt, neu gefasst:
Die Zahlungsklage gegen die Beklagten zu 3. bis 5. ist dem Grunde nach zu 30 v. H. gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 3. bis 5. gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin 30 v. H. der weiteren Aufwendungen zu ersetzen, die sie auf Grund des Unfalls vom 22. März 2011 für den Versicherten M. K. zu erbringen hat, soweit dessen Ansprüche auf die Klägerin übergegangen sind.
Die Klage gegen die Beklagten zu 1. und 2. wird abgewiesen. Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. und 2..
Wegen des Streits über den Betrag des Anspruchs gegen die Beklagten zu 3. bis 5. wird die Sache zur Verhandlung und Entscheidung - auch über die übrigen Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten zu 1. und 2. durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 v. H. des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn die Beklagten zu 1. und 2. nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Wert des Berufungsverfahrens wird auf 161.700 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Parteien streiten über Schadenersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall. Die Klägerin geht aus übergegangenem Recht vor. Es wird auf die Feststellungen des angefochtenen erstinstanzlichen Grundurteils Bezug genommen (Bl. 24 bis 36 Bd. III d. A.). Die Beklagten zu 3. bis 5. haben die Höhe der Forderung der Klägerin bestritten.
Das Landgericht meint - unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverursachungsbeitrages des an dem Unfall beteiligten Kindes - hafteten der Klägerin dem Grunde nach sämtliche Beklagte gesamtschuldnerisch in Höhe von 30 v.H. und die Beklagten zu 1. und 2. als Gesamtschuldner in Höhe weiterer 20 v.H. Da die Klägerin mehrere Unfallbeteiligte in Anspruch nehme, sei die Mitverantwortung gegenüber jedem der Schädiger gesondert abzuwägen. Die Beklagten zu 1. und 2. hafteten danach hälftig. Aus dem Sachverständigengutachten ergebe sich, dass der Beklagte zu 1. neben dem Bus eine Bewegung habe wahrnehmen können. Der Sachverständige habe unterstellen dürfen, der PKW sei mittig des Fahrstreifens gefahren und das Kind habe die Straße rechtwinklig zur Fahrbahn gequert. Zwar habe der Sachverständige festgestellt, dass bei einer Betrachtung der Vermeidbarkeit aufgrund einer spätesten Reaktionsaufforderung durch Sichtbarwerden des die Fahrbahn querenden Kindes der Unfall für den Beklagten zu 1. räumlich und zeitlich unvermeidbar gewesen sei.
Bei der Betrachtung der Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens in der Phase der weiträumigen Annäherung des PKW, in der das Kind den Bus im Bereich der Vordertür verlassen habe, habe der Sachverständige eine Wahrnehmbarkeit des Kindes für den Beklagten zu 1. zwischen der Leitplanke und dem Bus ab dem Beginn der Bewegung Richtung Heck des Busses für eine Dauer von 1,48 bis zu 1,5 Sekunden festgestellt. Hinzu käme - nach Auffassung des Landgerichts - die Zeit, welche das Kind für den Aussteigevorgang benötigt habe. Nach dem Aussteigen sei das Kind damit für den Beklagten zu 1. jedenfalls mindestens 1,48 Sekunden sichtbar gewesen.
Die beabsichtigte Bewegung des Kindes Richtung Heck des Busses sei für den Beklagten zu 1. zwar nicht absehbar gewesen. Der auf der Landstraße stehende Bus und die Bewegung zwischen dem Bus und der Leitplanke habe aber für den Beklagten zu 1. eine Reaktionsaufforderung dargestellt, sich der betreffenden Stelle vorsichtiger als üblich zu nähern. In einer derartigen Situation müsse die Geschwindigkeit verlangsamt werden, wenn mit Personen auf der Fahrbahn zu rechnen sei. Ein Idealfahrer sei aufgefordert, den Bus nur mit gesteigerter Aufmerksamkeit bei jederzeitiger Bremsbereitschaft und mit erheblich reduzierter Geschwindigkeit zu passieren. Der Sachverständige habe auch festgestellt, dass eine Abbremsung des PKW bis zum Kollisionsort räumlich und zeitlich möglich gewesen wäre. Es könne dahinstehen, ob ein vollständiges Abbremsen verlangt werden könne. Jedenfalls sei dem Beklagten zu 1. eine Reduzierung der Geschwindigkeit abzuverlangen gewesen, die den Unfall auch vermieden hätte. Nach den Berechnungen des Sachverständigen hätte bereits ein leichtes Abbremsen auf 56 - 60 km/h ausgereicht, um die Kollision mit dem Kind zu vermeiden. Dies habe der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer unter Bezugnahme auf ein Weg-Zeit-Diagramm erläutert. Das gelte auch, obwohl der Bus nicht an einer Haltestelle gehalten habe. Entscheidend sei, ob die konkrete Verkehrssituation eine mögliche Gefahrenlage dargestellt...