Leitsatz (amtlich)
Besteht für einen Betreuten die Möglichkeit des freiwilligen Beitritts zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, muss diese in seinem Interesse auch dann wahrgenommen werden, wenn Hilfen zur Gesundheit und zur Pflege von den zuständigen Trägern der Sozialhilfe erbracht werden, denn der nicht versicherte Betreute hat für die Kosten seiner Gesundheit und Pflege selbst aufzukommen, die Sozialhilfe ist nur nachrangig.
Nimmt ein Einzelbetreuer die Betreuung berufsmäßig als Mitarbeiter eines anerkannten Betreuungsvereins vor (sog. Vereinsbetreuer) und übersieht er diese Möglichkeit, so haftet er dafür auch bei leichter Fahrlässigkeit. Der dadurch dem Betreuten entstandene Schaden kann vom Träger der Sozialhilfe aus übergegangenem Recht geltend gemacht werden.
Verfahrensgang
LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 07.12.2012; Aktenzeichen 4 O 102/12) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 7.12.2012 verkündete Urteil des LG Dessau-Roßlau abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 22.695,34 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für das Jahr auf 4.578,59 EUR seit dem 6.5.2011, 4.282,46 EUR seit dem 17.2.2012, 1.229,77 EUR seit dem 10.7.2012 und 12.604,52 EUR seit dem 30.8.2013 sowie an das Land Sachsen-Anhalt 30.429,36 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für das Jahr auf 9.660,67 EUR seit dem 17.2.2012, 6.200 EUR seit dem 10.7.2012 und 14.568,69 EUR seit dem 30.8.2013 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger 2/5 und die Beklagte 3/5. Die Kosten des Berufungsrechtszuges werden dem Kläger zu ¼ und der Beklagten zu ¾ auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
und beschlossen:
Der Streitwert für den Berufungsrechtszug wird auf 70.572,76 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Wegen der dort getroffenen tatsächlichen Feststellungen wird zunächst auf das angefochtene Urteil des LG Dessau-Roßlau vom 7.12.2012 Bezug genommen.
Der nicht krankenversicherte Betreute erhielt seit September 1999 Leistungen der Sozialhilfe, die zumindest gegen Ende des Jahres 2000 auch Leistungen der häuslichen Pflege umfassten. Ab 1.1.2001 wurde die Pflegestufe III gewährt. In einem medizinischen Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 31.8.2001 (Anlage K9) ist u.a. festgestellt, dass der Betreute eines zweimaligen Verbandswechsels bedurfte. Seinen Allgemeinzustand beschrieb der Arzt als mäßig. Herr H. betreibe Alkoholmissbrauch und liege nur noch im Bett. Der Stütz- und Bewegungsapparat sei funktionell schwer beeinträchtigt. Im täglichen Leben sei der Betreute nur bedingt selbständig bis unselbständig.
Seit 2002 bestand - kurz unterbrochen - eine Betreuung. Mit Bescheid vom 1.3.2007 (Anlage K5) wurden im Namen des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe mit Wirkung vom 1.1.2005 als Hilfe zur Pflege die Kosten einer besonderen Pflegekraft von monatlich 1.432 EUR übernommen. Dem lag ein amtsärztliches Gutachten vom 3.8.2006 zugrunde (Anlage K10), das einen täglichen Gesamtpflegebedarf von 302 Minuten feststellte. Weiter heißt es in dem Bescheid, dass der Betreute eine Erwerbsunfähigkeitsrente und ergänzend Sozialhilfe beziehe. In diesem Zusammenhang wurden durch den Kläger als örtlicher Sozialhilfeträger auch Hilfen zur Gesundheit erbracht, insbesondere die Behandlungskosten getragen bzw. der Krankenkasse nach § 264 SGB V erstattet.
Das medizinische Gutachten vom 3.8.2006 geht von einer möglicherweise schon seit dem Jahr 2000 bestehenden eingeschränkten Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung aus. Der Stütz- und Bewegungsapparat sei krankheitsbedingt schwer funktionell eingeschränkt. Bewegen könne sich der Betreute nur noch mit fremder Hilfe.
Der Kläger hat behauptet, mit dem Feststellungsbescheid vom 10.2.2009 habe zum 20.6.2008 die Möglichkeit zur freiwilligen Krankenversicherung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V bestanden. Damit hätte gem. § 20 Abs. 3 SGB XI auch ein Versicherungsverhältnis in der gesetzlichen Pflegeversicherung begründet werden können, die ab dem 20.6.2010 Leistungen erbracht hätte. Die von den Krankenversicherungen in ihren Satzungen teilweise bestimmten Altersgrenzen, seien nicht überall anzutreffen. So mache die K. (Anlage K19) den Beitritt nicht von einer Altersgrenze abhängig. Auf Vorversicherungszeiten komme es nicht an, weil der Betreute wegen seiner Behinderung diese nicht habe erfüllen können. Herr H. sei zu k...