Leitsatz (amtlich)
1. Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung ist das Vorliegen einer Handlung i.S. eines der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegenden und mithin beherrschbaren menschlichen Tuns. Die Handlungsqualität einer Lenkbewegung eines Fahrzeugführers nach einer Kollision mit einem Reh kann zweifelhaft sein.
2. Die Darlegungs- und Beweislast für die Handlungsqualität trägt der Geschädigte.
3. Ein unmittelbar vor der Kollision mit dem Reh zwar Schreck bedingtes, aber gleichwohl mehr oder weniger bewusst eingeleitetes „Ausweichmanöver” eines Fahrzeugführers stellt regelmäßig keine fahrlässige Herbeiführung eines Schadenfalls dar. Es entspricht grundsätzlich verkehrsüblicher Sorgfalt, einen bevorstehenden Frontalzusammenstoß mit einem Wildtier, wie hier einem ausgewachsenen Reh, zu vermeiden. Diese Bewertung ist auch nicht deshalb in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn der Rettungsversuch mangels ausreichender Reaktionszeit erfolglos geblieben ist.
Verfahrensgang
LG Dessau (Aktenzeichen 4 O 444/02) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 1.10.2002 verkündete Urteil des LG Dessau, 4 O 444/02, abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen haben die Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Kläger übersteigt 20.000,00 Euro nicht.
Von der Darstellung eines Tatbestandes wird nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO n.F. abgesehen.
Gründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig; insb. wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
Entgegen der Ansicht des LG haben die Kläger gegen die Beklagten schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf Schadenersatz.
1. Der von den Klägern geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der Beerdigungskosten ergibt sich nicht aus der Gefährdungshaftung nach §§ 7 ff. StVG. Die Haftung des Halters bzw. Fahrzeugführers aus den Vorschriften des StVG ist begrenzt; u.a. haftet ein Halter oder Fahrzeugführer für Personenschäden der Insassen seines Fahrzeuges nach § 8a Abs. 1 StVG in der zum Unfallzeitpunkt geltenden Fassung nur, wenn er diese Personen entgeltlich und geschäftsmäßig befördert hat. Die durch den Verkehrsunfall vom 5.5.2001 getötete Tochter der Kläger war Fahrzeuginsassin in dem vom Beklagten zu 1) geführten Pkw, ohne dass es sich hierbei um eine gewerbsmäßige Personenbeförderung gehandelt hätte.
2. Ein Anspruch der Kläger gegen die Beklagten lässt sich – entgegen der Auffassung des LG – auch nicht aus Deliktsrecht, insb. §§ 823 Abs. 1, 844 Abs. 1 BGB, hinsichtlich der Beklagten zu 2) i.V.m. § 3 PflVG begründen.
2.1. Die Kläger haben schon nicht bewiesen, dass dem Beklagten zu 1) eine „Handlung”, d.h. ein der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegendes, beherrschbares Verhalten zur Last liegt. Es ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht auszuschließen, dass das „Ausweichmanöver” des Beklagten zu 1) als unwillkürlicher Reflex durch die Kollision mit dem Reh ausgelöst worden ist.
Erste Voraussetzung für einen Schadenersatzanspruch aus unerlaubter Handlung, wie er von den Klägern gegen die Beklagten geltend gemacht wird, ist eine Handlung der in § 823 Abs. 1 BGB bezeichneten Art. Das ist ein menschliches Tun, das der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist. Keine Handlung sind daher körperliche Bewegungen, die unter physischem Zwang ausgeführt oder als unwillkürlicher Reflex durch fremde Einwirkung ausgelöst werden (vgl. nur BGHZ 39, 103 ff. = MDR 1963, 399 m.w.N.).
Ob im vorliegenden Falle dem „Ausweichmanöver” des Beklagten zu 1) ein willensabhängiges selbsttätiges Handeln zugrunde liegt, ist offen. Etwas Anderes ergibt sich insb. nicht aus dem Gutachten der D. GmbH vom 6.3.2002, welches im Ermittlungsverfahren 561 Js 14340/01 der Staatsanwaltschaft Dessau eingeholt worden war und im vorliegenden Zivilprozess im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird.
Nach dem Inhalt dieses Gutachtens hat – was zwischen den Parteien des Rechtsstreits (entgegen der insoweit nicht eindeutigen Darstellung im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils) auch unstreitig ist – eine Kollision mit einem Reh stattgefunden. Der Sachverständige der D. hat zwar ausgeschlossen, dass der vom Beklagten zu 1) geführte Pkw allein wegen des Zusammenstoßes mit dem Reh instabil geworden sei (vgl. S. 17 des Gutachtens, entspricht Bl. 38 Anlagenband; künftig: vgl. S. 17/Bl. 38 Anl. Bd.); er konnte hieraus jedoch nur den Schluss ziehen, dass der Beklagte zu 1) eine Lenkbewegung ausgeführt haben muss (vgl. S. 26/Bl. 47 Anl. Bd.). Ob diese Lenkbewegung nach links evtl. durch den Stoß bewirkt wurde, der mit der rechtsseitigen Kollision des Kfz. mit dem Reh entstanden war, oder ggf. eine reflexartige Reaktion des Beklagten zu 1) darstellte, war für den Sachverständigen weder positiv feststellbar noch ausschließbar. Denn es entspricht auch allgemeiner Lebenserfahrung, dass selbst ein...