Leitsatz (amtlich)

1. Zum (hier fehlgeschlagenen) Nachweis der nicht standardgerechten Durchführung einer gynäkologischen TVT-Implantation trotz nachgewiesener Perforation des Dünndarms.

2. Ist die ärztliche ex-ante-Bewertung zweier alternativer Operationsmethoden als nicht gleichwertig vertretbar (hier: im Februar 2003 die Einschätzung, dass bei einer Stressharninkontinenz eine [offene] Kolposuspension gegenüber einer [minimalinvasiven] TVT-Implantation zwar auch annähernd gleiche Heilungschancen bietet, aber wegen ihrer insgesamt sehr viel höheren Risiken keine echte Alternative darstellt), so stellt der darauf fußende Entschluss, über die andere Operationsmethode nicht im Einzelnen aufzuklären, keine schuldhafte Pflichtverletzung dar.

 

Verfahrensgang

LG Stendal (Urteil vom 16.05.2007; Aktenzeichen 21 O 391/03)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 16.5.2007 verkündete Urteil des LG Stendal, 21 O 391/03, wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagten Sicherheit in gleicher Höhe geleistet haben.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer übersteigt 20.000 EUR.

und beschlossen:

Der Kostenwert des Berufungsverfahrens wird auf 29.669,90 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt von den Beklagten als Gesamtschuldner Schmerzensgeld und Schadenersatz wegen fehlerhafter und mangels ausreichender Aufklärung rechtswidriger Behandlung ihrer Stressharninkontinenz II. bis III. Grades im Februar 2003.

Die damals 63-jährige Klägerin litt im Jahre 2002 an einem hochgradigen belastungsbedingten, d.h. beim Husten, Niesen, Laufen und Heben ausgelösten unwillkürlichen Urinverlust aufgrund mangelhafter Verschlussfunktion der Harnröhre. Konservative Behandlungsmaßnahmen waren ohne Heilungserfolg geblieben, weshalb sich die Klägerin auf Empfehlung ihrer niedergelassenen Gynäkologin und nach Aufsuchen der ambulanten Sprechstunde beim Beklagten zu 3) im Juli 2002 zum operativen Eingriff entschloss. Die Operation sollte in Form einer TVT-Implantation erfolgen. Das ist eine Operation, bei der zwei kleine Hautschnitte über dem Schambeinknochen und ein kleiner Schnitt unter der Harnröhre in der Scheide gemacht werden. Von diesem letztgenannten Schnitt werden zwei Kanäle zu den beiden Hautschnitten jeweils neben der Harnröhre präpariert. Mit einem Spezialgerät wird ein Kunststoffband von der Scheide hinter dem Beckenknochen nach oben zu den beiden oberen Hautschnitten geführt. Das Band bleibt spannungsfrei unter der Harnröhre liegen und wirkt dann wie ein Widerlager. Lediglich dann, wenn die Harnröhre bei Belastungen im Körper absinkt, weil sie vom Bindegewebe nicht mehr ausreichend gehalten wird, wird sie von dem Band am Tiefertreten und damit an der Verursachung von Undichtheiten gehindert.

Die stationäre Aufnahme der Klägerin erfolgte nach diversen Vorbereitungen schließlich am 17.2.2003 in der Klinik der Beklagten zu 1), deren Chefarzt der Beklagte zu 3) und deren Oberärztin die Beklagte zu 2) war. Die Beklagte zu 2) führte mit der Klägerin am Aufnahmetag ein Aufklärungsgespräch unter Benutzung eines standardisierten Aufklärungsbogens des perimed Compliance-Verlages, Gyn 27 "TVT-Implantation (Einsetzen eines spannungsfreien Scheidenbandes)" (Stand 6/2001), durch. Der Aufklärungsbogen, auf dessen Inhalt wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (vgl. Anlage B 7, GA Bd. I Bl. 113 bis 116), enthält umfangreiche handschriftliche Eintragungen der Beklagten zu 2) und endet mit einer von der Klägerin unterschriebenen Einwilligungserklärung.

Am 18.2.2003 wurde in der Zeit von 9:37 Uhr bis 9:55 Uhr (18 min) die geplante Operation unter Spinalanästhesie durch die Beklagten zu 2) als Operateurin und den Beklagten zu 3) als Assistenten durchgeführt. Im Operationsbericht, auf dessen weiteren Inhalt Bezug genommen wird (vgl. Anlage B 6, GA Bd. I Bl. 112), heißt es u.a.

"... Beim Legen der linken Nadel bleibt deren Spitze zunächst retrosymphysär an der Symphyse [das die beiden Schambeine verbindende Gelenk - Anm. d. Senats] hängen. Durch geringe Lagekorrektur kommt die Spitze frei, ist aber danach beim langsamen Vorschieben zwei Zentimeter oberhalb und links von der Stichinzision in der Bauchdecke tastbar. Teilweise Rückzug der Nadel und Ausstechen aus der Inzisionsstelle. Es erfolgt eine Zystoskopie und der Nachweis der Unversehrtheit der Harnblase. Anschließend werden die Nadeln entfernt und das Band platziert ..."

Am 20.2.2003 wurde eine nun offene Revisionsoperation wegen eines sich bestätigenden Verdachts auf eine Entzündung des Bauchfells (Peritonitis) durchgeführt. Als Ursache der Entzündung wurde eine Perforation des Dünndarms mit drei Löchern festgestellt; der perforierte Dünndarmteil wurde entfernt. Zwischen den Parteien ist streitig, ob dieser Befu...

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