Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei dem Kauf eines gebrauchten Kraftfahrzeugs kann der Käufer, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, i.S.v. § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB erwarten, dass das Fahrzeug keinen Unfall erlitten hat, bei dem es zu mehr als sog. "Bagatellschäden" gekommen ist.
2. Beweiswürdigung in einem Fall des arglistigen Verschweigens eines mittelschweren Unfallschadens an einem Gebrauchtwagen.
3. Der Versuch einer Haftungsfreizeichnung vermag einen erforderlichen Hinweis auf einen mittelschweren Unfallschaden nicht zu ersetzen.
4. Zur Feststellung besonderer Umstände, welche ausnahmsweise eine Untersuchungspflicht eines gewerblichen Kfz.-Händlers im Gebrauchtwagengeschäft begründen.
Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 01.11.2019; Aktenzeichen 5 O 250/19) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 1. November 2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Halle teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 31.620,00 EUR Zug um Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des Fahrzeugs S., FIN ..., zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des o.a. Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Das weitergehende Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits in allen drei Instanzen hat die Beklagte zu tragen.
IV. Das Urteil des Senats ist vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner kann die Zwangsvollstreckung durch den Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Rückabwicklung eines Kaufvertrages über einen Gebrauchtwagen aus verschiedenen Rechtsgründen.
Die Prozessparteien schlossen am 07.04.2018 einen Kaufvertrag über den am 10.08.2016 erstzugelassenen S. mit der Fahrzeug-Identifizierungs-Nummer (FIN) ... (künftig: das Fahrzeug) zu einem Kaufpreis von 31.850,00 EUR. Ausweislich des Kaufvertrages betrug die Gesamtfahrleistung der Vorbesitzer 7.840 km. In dem Abschnitt des Kaufvertragsformulars, in welchem "Schäden lt. Vorbesitzer", "Offene Schäden" sowie "techn. opt. Mängel" vermerkt werden konnten, erfolgte jeweils ein Verweis auf ein - dem Kaufvertrag nicht beigefügtes - Gebrauchtwagenzertifikat, das nachgereicht werden sollte. Im unteren Viertel der Vertragsurkunde befand sich ein kleingedruckter, 16-zeiliger Fließtext mit Regelungen u.a. zu Verjährungsfragen für Sach- und Rechtsmängel, zum Eigentumsvorbehalt der Verkäuferin bis zur vollständigen Bezahlung des Kaufpreises sowie zum Ausschluss der Haftung für Internetangaben zum Fahrzeug. Als sonstige Vereinbarungen wurden aufgeführt die "Zulassung selbst am Wohnort", die Durchführung einer Probefahrt und die Vereinbarung einer Restanzahlung vor Abholung. Sodann hieß es:
"... Kundin wurde über Vorschaden Front und allgemeinen Nachlackierungen vorab informiert, welche nicht nach
Herstellerrichtlinien repariert wurden. Art und Umfang unbekannt. HU und AU bis 08.2019."
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anlage K 1 (GA Bl. 13) Bezug genommen.
Die Parteien vereinbarten eine Barzahlung in Höhe von insgesamt 5.000,00 EUR; im Übrigen vermittelte die Beklagte der Klägerin und deren Lebensgefährten B. K. einen Darlehensvertrag der C. Bank AG.
Am 23.04.2018 übergab die Beklagte der Klägerin das Fahrzeug. Ihr Verkäufer legte der Klägerin diverse Dokumente zur Unterzeichnung vor, so eine "Empfangsbestätigung" mit einer Auflistung der übergebenen Unterlagen (Kaufvertrag, Rechnung, EG-Übereinstimmungserklärung, Finanzierungsunterlagen, Vereinbarung, Bordmappe mit Original-Wartungslisten, Original ABE für Sportschalldämpfer und Fahrwerk, Fahrzeugpapiere, Gebrauchtwagen-Zertifikat) sowie zwei Fahrzeugschlüssel, sodann das vorerwähnte Gebrauchtfahrzeug-Zertifikat (vgl. Anlage K 7, künftig: GFZ), auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, sowie eine mit "Vergleich" überschriebene Vereinbarung (vgl. Anlage K 6, künftig: Vergleich), auf dessen Inhalt ebenfalls verwiesen wird. Die Klägerin leistete die geforderten Unterschriften und übernahm das Fahrzeug.
Nachdem die Klägerin bei ersten Fahrten im Fahrzeuginnenraum Blutspritzer und Glassplitter entdeckte, suchte sie am 30.04.2018 eine S. -Vertragswerkstatt auf. Sie wurde von einem Mitarbeiter der Werkstatt darauf aufmerksam gemacht, dass in der S. -Datenbank ein Wechsel des Motors im Januar 2018 bei einem km-Stand von ca. 8.900 km verzeichnet sei. Das Fahrzeug habe einen schweren Unfall erlitten, bei dem die Front-Airbags ausgelöst worden seien und der einen Reparaturaufwand in einer Größenordnung von ca. 15.000,00 EUR verursacht habe. Die Werkstatt informierte sie weiter über diverse fortbestehende Sachmängel am Fahrzeug, für w...