Leitsatz (amtlich)
1. Das Gebot, eine Jugendhilfeleistung außerhalb der Familie anzunehmen und nicht zu beeinträchtigen solange vom Jugendamt keine andere Leistung angeboten wird, stellt im Vergleich zu dem Entzug wesentlicher Teilbereiche der elterlichen Sorge den geringeren Eingriff in das Elternrecht vor.
2. Dieses Gebot kommt insbesondere in Betracht, wenn die Inhaber der elterlichen Sorge mit einer Trennung des Kindes von der Familie grundsätzlich einverstanden sind, aber die angebotene Leistung des Jugendamtes ablehnen. Mit dem Entzug von Teilbereichen der elterlichen Sorge würden die Inhaber der elterlichen Sorge nämlich zugleich ihr Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII sowie ihre Beteiligungsrechte an der Hilfeplanung nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII verlieren.
3. Die Familiengerichte sind nicht zur Entscheidung über die Auswahl einer geeigneten Leistung der Jugendhilfe berufen. Vielmehr unterliegt das Handeln des Jugendamtes der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.
Normenkette
GG Art. 6 Abs. 2; BGB §§ 1666, 1666a, 1688; SGB VIII §§ 5, 36
Verfahrensgang
AG Kelheim (Beschluss vom 11.07.2014; Aktenzeichen 001 F 720/13) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Mutter wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Kelheim vom 11.7.2014 in Nr. 1 und 2 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Mutter des Kindes E. S., geboren am ... 2002, wird geboten, vom Jugendamt angebotene öffentliche Hilfen für das Kind, insbesondere in Form einer Heimerziehung oder sonstigen betreuten Wohnform gem. § 34 SGB VIII, in Anspruch zu nehmen; ihr wird verboten, die derzeitige Hilfegewährung zu beeinträchtigen oder zu beenden, solange ihr vom Jugendamt keine andere Hilfe zur Erziehung angeboten wird.
2. Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Beschwerdeführerin ist Mutter von insgesamt fünf Kindern. In ihrem Haushalt lebt neben E., ihrem jüngsten Kind, noch dessen Halbschwester A., 16 Jahre alt, und P., 19 Jahre alt. Beide befinden sich derzeit in Berufsausbildung. Daneben hat die Mutter noch zwei weitere Kinder, einen erwachsenen Sohn, der nicht mehr bei der Familie wohnt, und eine 21-jährige Tochter, die in Regensburg in einer Wohngruppe wohnt. Die Tochter kommt regelmäßig an den Wochenenden nach A., um insbesondere den engen Kontakt mit E. zu pflegen. Sie war auch bei dem Termin zur Anhörung von E. vor dem Senat anwesend.
Bereits am 16.7.2013 sprach die Kindesmutter persönlich beim Kreisjugendamt Kelheim vor und teilte mit, dass sie mit E. überfordert sei. Dieser raste völlig aus, wenn sie sein Zimmer betrete. Er werfe mit Geschirr umher, horte Essensreste im Bettkasten bis diese schimmeln, bestemple mit einem Stempel die Innenwände des gesamten Hauses, werfe Gegenstände umher, räume den gesamten Inhalt des Kühlschrankes aus, werfe diesen in die Toilette und verteile überall Waschpulver, Zahnpasta und Flüssigseife. Es sei unmöglich, ihn zum Arzt zu fahren, weil er auch aus dem fahrenden Auto aussteige. Wiederholt sei er abgängig gewesen, weshalb sie ihn zum Teil auch nachts habe suchen müssen. Die Mutter stellte einen Antrag auf Gewährung von Jungendhilfeleistungen in Form einer stationären Unterbringung. In Absprache mit dem Jugendamt stellte sie E. danach bei Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Regensburg vor, um den genauen Bedarf des stationären Settings für E. klären zu lassen. Dort wurde eine reaktive Bindungsstörung diagnostiziert. Nach Rücksprache mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde durch das Jugendamt in einer Einrichtung im Kreis Rhön-Grabfeld (Bischofsheim) angefragt, ob diese bereit wäre, E. aufzunehmen. Der Aufnahmetermin wäre am 9.10.2013 gewesen. Die Kindesmutter gab jedoch an, dass E. in der Einrichtung nicht untergebracht werden solle, da sich diese zu weit von ihrem Wohnort weg befinde und sie sich die Fahrt nicht leisten könne. Nach dem Bericht des Jugendamtes wurde ihr die Übernahme der Fahrtkosten in Aussicht gestellt. Das Jugendamt wandte sich hierauf an das Familiengericht mit einer Mitteilung nach § 8a Abs. 3 SGB VIII. In dieser Mitteilung regte das Jugendamt an, der Kindesmutter im Eilverfahren die Personensorge für E. einstweilen zu entziehen und auf das Kreisjugendamt in Form einer Ergänzungspflegschaft zu übertragen.
Der vom AG eingesetzte Verfahrensbeistand berichtete am 12.11.2013, er habe ein Gespräch mit der Kindesmutter und E. geführt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie seien angespannt. Die Kindesmutter verdiene als Reinigungskraft in der Realschule durchschnittlich monatlich 650,- Euro und bekomme für drei Kinder Kindergeld. Der Kindesvater von E. bezahle für diesen regelmäßig Kindesunterhalt i.H.v. 272,- Euro. Die Warmmiete betrage 700,- Euro. Das Wohnumfeld wurde vom Verfahrensbeistand (ebenso wie später vom Sachverständigen) als angemessen bezeichnet, die Wohnung mache einen ordentl...