Leitsatz (amtlich)
1. Nach einer operativen Epiphyseodese mit Schraubenosteosynthese (Verkürzung einer Extremität mit Fixierung der Knochenfragmente durch Schrauben) ist die Hüftkopfnekrose (Absterben eines Hüftknochenteils) die bekannteste und gefährlichste Komplikation. Daher sind Röntgenkontrollen in kurzen Intervallen geboten, um eine Nekrose zu erkennen. Erkennt der Arzt auf dem Röntgenbild eine beginnende Nekrose nicht, ist dies für einen Orthopäden oder Unfallchirurgen unverständlich und stellt einen als grob zu bewertenden Diagnosefehler dar.
2. Musste die 13-jährige Patientin, deren Hüftgelenk bei ordnungsgemäßer Behandlung zur Ausheilung ohne Beeinträchtigung der Funktion hätte gebracht werden können, stattdessen aufgrund der Fehldiagnose den Einbruch des Hüftkopfes und sich anschließend weitere Operationen bis hin zur Implantation eines künstlichen Hüftgelenks hinnehmen, wobei gerade die Zeit bis zur Implantation des Hüftgelenks mit massiven körperlichen Beschwerden, insbesondere aufgrund der Beinlängendifferenz und auch massiven sozialen und psychischen Beeinträchtigungen verbunden war, erscheint ein Schmerzensgeld von 75.000 Euro als angemessen. Dabei ist berücksichtigt, dass die Patientin mit drei bis vier weiteren Implantationen eines neuen Hüftgelenks rechnen muss und diese ohnehin gravierenden Einschnitte in die Lebensführung bei Jugendlichen stärker ins Gewicht fallen, weil dadurch die in dieser Altersgruppe besonders wichtigen Kontakte zu Gleichaltrigen erschwert werden.
Verfahrensgang
LG Regensburg (Urteil vom 19.05.2011) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts Regensburg vom 19.05.2011 abgeändert:
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 75.000,00 Euro und Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 23.11.2009 zu bezahlen.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.762,84 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 23.11.2009 zu bezahlen.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.118,44 Euro zu bezahlen und Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.01.2010.
- Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden, die sich aus der durch die Beklagte durchgeführten Nachbehandlung ab 11.07.2007 ergeben werden, zu ersetzen, soweit diese nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten der ersten Instanz hat die Klägerin zu tragen 22 %, die Beklagte 78 %; von den Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen 13 %, die Beklagte 87 %.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; die Beklagte kann eine Vollstreckung durch die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen ärztlicher Fehlbehandlung geltend.
Am 23.10.2006 stellte sich die Klägerin wegen zunehmender Schmerzen im linken Hüftgelenk bei der Beklagten vor. Nach Aufklärung wurde noch am gleichen Tag eine operative Epiphyseodese links mit Schraubenosteosynthese durchgeführt. Intraoperativ wurde, nachdem zunächst eine geschlossene Reposition erfolglos versucht worden war, zu einer offenen Reposition und Schraubenosteosynthese übergegangen. Nach Entlassung aus der stationären Behandlung wurden sowohl bei ambulanten Vorstellungsterminen der Klägerin im Hause der Beklagten als auch bei einem stationären Aufenthalt der Klägerin u.a. am 20.12.2006, 24.01.2007, 28.03.2007, 11.07.2007, 23.07.2007 und 24.07.2007 Röntgenuntersuchungen vorgenommen.
Am 23.07.2007 erfolgte die operative Entfernung des Osteosynthesematerials im Hause der Beklagten.
Ende August/Anfang September 2007 stellten sich bei der Klägerin heftige Schmerzen in der linken Hüfte ein, weshalb sie sich am 18.09.2007 in die orthopädische Behandlung des Orthopäden … begab. Die dort veranlasste MRT-Untersuchung vom 20.09.2007 ergab den Einbruch des Hüftkopfes, weshalb die Klägerin in der … Klinik … weiterbehandelt wurde. Dort erfolgte am 28.09.2007 eine operative Implantation eines gelenkübergreifenden Fixateurs extern am linken Hüftgelenk. Infolge der Lockerung der Pins wurde am 19.10.2007 erneut eine operative Implantation eines Fixateurs extern vorgenommen. In der Folgezeit litt die Klägerin unter massiven Beschwerden, die sich trotz intensiver medizinischer Behandlung nicht besserten. Deshalb begab sich die Klägerin vom 13.07.–29.07.2009 in stationäre Behandlung der …. Dort wurde am 14.07.2009 eine Kurzschaftprothese am linken Hüftgelenk implantiert. Im Anschluss daran erfolgte eine stationäre Reha im … vom 29.07.–19.08.2009.
Die Klägeri...