Leitsatz (amtlich)
1. Die Verkehrssicherungspflicht für Bahnsteige erfordert, bei winterlichen Verhältnissen (auch) einen hinreichend großen Bereich hinter der auf Bahnsteigen angebrachten, längs der Bahnsteigkante verlaufenden weißen Markierung ("Sicherheitslinie") zu räumen und zu streuen, damit Fahrgäste in diesem Bereich den Bahnsteig gefahrlos betreten und verlassen können.
2. Zur Haftung eines Eisenbahnverkehrsunternehmens, des für den Gleiskörper zuständigen Eisenbahninfrastrukturunternehmens sowie des für Bahnhöfe und Bahnsteige zuständigen Eisenbahnunternehmens beim Sturz eines Fahrgastes auf einem - nicht ausreichend geräumten und gestreuten - Bahnsteig unter den Gesichtspunkten einer vertraglichen Haftung, einer Gefährdungshaftung nach dem Haftpflichtgesetz und einer Haftung wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten.
3. Die Haftungshöchstgrenzen des § 9 HPflG beziehen sich einheitlich auf sämtliche Schadensersatzansprüche, auch soweit diese auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
4. Neue, erstmals in der Berufungsinstanz erfolgte Angriffs- oder Verteidigungsmittel eines Streithelfers sind verspätet und nicht zu berücksichtigen, wenn der unterstützten Partei diese Angriffs- oder Verteidigungsmittel bereits im ersten Rechtszug möglich gewesen wären, dort aber aus Nachlässigkeit der unterstützten Partei nicht geltend gemacht wurden. Unerheblich ist, ob dem Streithelfer ein solches erstinstanzliches Vorbringen (wegen eines erst in der Berufung erfolgten Beitritts) nicht möglich war.
Normenkette
BGB §§ 241, 280, 823, 831; HPflG §§ 1, 9; ZPO §§ 67, 74 Abs. 1, § 531 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Nürnberg-Fürth vom 18.5.2011 - 2 O 8329/10, wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Ziff. 2 Halbs. 2 des Tenors dieses Endurteils wie folgt lautet: "bei der Beklagten zu 2 ist diese Haftung insgesamt begrenzt auf die Höchstgrenzen des § 9 Haftpflichtgesetz."
2. Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Streithelferinnen tragen ihre ihnen im Berufungsverfahren entstandenen Auslagen selbst.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziff. 1 genannte Urteil des LG Nürnberg-Fürth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Beschluss:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 56.556,57 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Unfall geltend, der sich am 17.2.2010 auf dem Bahnsteig des Bahnhofs R. ereignet hat.
Der am 12.4.1993 geborene Kläger fuhr am Mittwoch, den 17.2.2010 (Aschermittwoch), gemeinsam mit Bekannten mit dem Nahverkehrszug ... von N. nach R. und stieg dort gemeinsam mit diesen Bekannten bei dem planmäßigen Halt des Zuges gegen 01.35 Uhr aus. Der Kläger ging sodann den Bahnsteig entlang in Richtung H. zum östlichen Ausgang des Bahnsteigs.
Nachdem der Zug bereits angefahren war, geriet der Kläger ins Straucheln, stürzte und geriet dabei mit den Füßen über die Bahnsteigkante in den Schienenbereich. Der anfahrende Zug erfasste den linken Fuß des Klägers. Dieser erlitt dabei schwere Verletzungen am linken Fuß, die mit extremen Schmerzen verbunden waren und nach mehrfachen Operationen schließlich zu einer Amputation des linken Fußes etwa ab der Ferse führten.
Wegen der im Einzelnen erlittenen Schäden des Klägers wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen.
Die Beklagte zu 1 erbringt Verkehrsleistungen mit Eisenbahnfahrzeugen, durch eines derer der Kläger verletzt wurde. Die Beklagte zu 2 hält das Schienennetz vor, auf dem Eisenbahnfahrzeuge der Beklagten zu 1 verkehren. Die Beklagte zu 3 ist Eigentümerin und Betreiberin der Bahnhöfe einschließlich des Bahnhofs R. Sie hat die Aufgabe der Verkehrssicherung, insbesondere des Winterdienstes, bezüglich ihrer Anlagen auf die Streithelferin zu 1 übertragen. Diese hat die Aufgabe ihrerseits auf die Streithelferin zu 2 delegiert.
Zum Unfallzeitpunkt war der vom Kläger benutzte Bahnsteig des Bahnhofs R. zum Teil geräumt. Der Bereich von der Bahnsteigkante bis etwa zu bzw. bis kurz vor der auf dem Bahnsteig angebrachten weißen Sicherheitslinie, die sich in einer Entfernung von etwa 1 m zur Bahnsteigkante befindet, war geräumt, wenn auch der genaue Zustand im Detail streitig ist; der Bereich hinter der Sicherheitslinie war nicht geräumt.
Der Kläger hat behauptet, er sei auf einer kleinen Eisfläche in dem geräumten Bereich zwischen Bahnsteigkante und Sicherheitslinie gestürzt. Auch dieser Bereich habe teilweise Glättestellen aufgewiesen.
Er hat die Ansicht vertreten, die Beklagten hätten ihre Verkehrss...