Leitsatz (amtlich)
1. Weil ein reibungsloser Bahnverkehr nur durch das Zusammenwirken von Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen zu erreichen ist, eröffnet auch ein bloßer Schienennetzbetreiber den Verkehr an den Haltestellen an seinem Netz. Er ist deshalb verkehrssicherungspflichtig.
2. Die Haftung für die Verletzung von Auswahl- und Überwachungspflichten gemäß § 823 BGB bei der Delegation von Verkehrssicherungspflichten ist unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 831 BGB vorliegen.
3. Soweit - wie bei Unfallverhütungsvorschriften - ein Anscheinsbeweis hinsichtlich der Kausalität für solche Schäden, die vom Schutzzweck umfasst sind, generell für Verkehrssicherungspflichten diskutiert wird, ist ein solcher jedenfalls nicht für die "sekundäre" Pflicht zu bejahen, die Durchführung zulässigerweise übertragener Pflichten zu überwachen.
Normenkette
BGB §§ 823, 831
Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Urteil vom 29.08.2019; Aktenzeichen 4 O 1539/18) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 29.08.2019, Az. 4 O 1539/18, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte zu 2 wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 26.04.2018 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin, einschließlich der durch die Nebenintervention verursachten Kosten.
In Bezug auf die erste Instanz gilt: Von den Gerichtskosten trägt die Beklagte zu 2 25 % und die Klägerin 75 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1 trägt die Klägerin. Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 trägt die Klägerin 50 %. Von den durch die Nebenintervention verursachten Kosten trägt die Klägerin 75 %. Im Übrigen tragen die Parteien und die Streithelferin ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 13.000 EUR festgesetzt. Im Verhältnis zur Beklagten zu 2 beläuft er sich auf 5.500 EUR.
Gründe
A. In der Berufung streiten die Parteien um die Verantwortlichkeit der Beklagten zu 1 als Schienennetzbetreiberin für die Folgen eines glatteisbedingten Sturzes der Klägerin am Morgen des 23.12.2016 auf dem Weg zur S-Bahn im Bereich des Zugangs zum Bahnsteig der Haltestelle O. Darüber hinaus wenden sich die Beklagten unter Verweis auf ein anzunehmendes Mitverschulden der Klägerin gegen den Haftungsumfang.
Im Übrigen wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil (Bl. 134 ff. d. A.) Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin im Hinblick auf die erlittene Unterschenkelmehrfragmentfraktur ein Schmerzensgeld in Höhe von 11.000 EUR nebst Zinsen zu bezahlen. Zudem hat es die Einstandspflicht der Beklagten als Gesamtschuldner für zukünftige noch entstehende materielle Schäden festgestellt.
Dagegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung. Die Beklagte zu 1 sei zwar Eigentümerin des Grundstücks. Sie habe aber den Verkehr nicht eröffnet und damit die Gefahrenlage nicht geschaffen; sie habe keine Sachherrschaft gehabt. Deshalb sei sie nicht verkehrssicherungspflichtig. Als Schienennetzbetreiberin schulde die Beklagte zu 1 nicht den sicheren Zu- und Abgang zum Bahnsteig. Eine vertragliche Beziehung mit der Klägerin habe nicht bestanden. Im Übrigen sei ein Mitverschulden der Klägerin von mindestens 30 % zu berücksichtigen. Die überfrierende Nässe sei vom Wetterdienst angekündigt, die gemeindlichen Straßen seien bereits gestreut, Glätte sei an anderen Stellen feststellbar und die Eisfläche auf dem Zuweg zum Treppenaufgang sei auch erkennbar gewesen. Weil kein Dauerschaden zu erwarten sei, sei das Schmerzensgeld zudem niedriger anzusetzen.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 04.11.2019 (Bl. 101 ff. d. A.) und den Schriftsatz vom 13.12.2019 (Bl. 183 d. A.) Bezug genommen.
Gestützt darauf beantragen die Beklagten,
1. Das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 29.08.2019 - Az.: 4 O 1539/18 - wird abgeändert.
2. Die Klage gegen die Beklagte zu 1 wird abgewiesen.
3. Die Beklagte zu 2 wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 EUR nebst Zinsen daraus in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 26.04.2018 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Berufungserwiderung vom 09.12.2019 (Bl. 179 ff. d. A.) Bezug genommen.
B. I. Die Beklagte zu 1 ist der Klägerin nicht zum Schadensersatz verpflichtet.
1. Zutreffend verweist die Beklagte zu 1 darauf, dass ein Anspruch der Klägerin gegen sie gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 278 BGB (ggf. in Verbindung mit § 311 Abs. 2 BGB) nicht besteht. Hierfür fehlt es an der erforderlichen ...