Leitsatz (amtlich)
Klettert ein Fahrgast aus dem Fenster eines anfahrenden Zuges und kommt dabei zu Schaden, so stehen ihm regelmäßig wegen seines überwiegenden Mitverschuldens Schadensersatzansprüche gegen den Bahnbetreiber nicht zu.
Dies gilt auch dann, wenn sich nicht mehr klären lässt, ob er von diesem oder einem nachfolgenden Zug verletzt wurde, selbst wenn letzterer aufgrund eines Fehlverhaltens des Zugbegleiters nicht mehr angehalten werden konnte.
Normenkette
HaftpflG §§ 1, 4; BGB §§ 254, 280, 823, 831
Verfahrensgang
LG Ansbach (Urteil vom 24.03.2010) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des LG Ansbach vom 24.3.2010 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird (entsprechend demjenigen der ersten Instanz) auf 68.646,45 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Der am ... 1989 geborene Kläger beansprucht von der Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld für Verletzungen, die er infolge des Aussteigens aus dem Fenster eines anfahrenden Zuges erlitt.
Am Abend des 30.4.2007 gegen 21.00 Uhr bestieg der zu diesem Zeitpunkt alkoholisierte Kläger in N. die von der Beklagten betriebene Regionalbahn ..., um nach H. zu fahren. Nachdem sich andere Fahrgäste über das ungebührliche Verhalten des Klägers (dieser hatte im Zug in Abfallbehälter uriniert) beim Zugbegleiter beschwert hatten, versuchte dieser den mittlerweile schlafenden Kläger zu wecken, was ihm jedoch nicht gelang. Als der Zug im Haltepunkt H. anhielt, versuchte der Kläger auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite durch die mittels Druckluft gesicherte Waggontür auszusteigen. Von diesem Vorhaben konnte ihn der Zugbegleiter abhalten. Der Kläger ging daraufhin vom Einstiegsraum in das Großraumabteil zurück und setzte sich zunächst wieder auf einen Sitzplatz. Kurz darauf als der Zug gegen 21.24 Uhr anfuhr, kletterte der Kläger - ohne dass es der Zugbegleiter bemerkte - durch ein Fenster aus dem Waggon und stürzte noch im Bereich des Haltepunktes H. herab. Der Kläger erlitt erhebliche Verletzungen. Sein rechtes Bein wurde abgetrennt, es kam zu Frakturen und Wunden am Schädel und im Kieferbereich sowie zu Schürfverletzungen im Rückenbereich, wobei nicht geklärt werden konnte, ob und welche dieser Verletzungen durch die Regionalbahn oder durch einen nachfolgenden Güterzug, der gegen 21.30 Uhr durch den Haltepunkt H. fuhr, verursacht wurden.
Kurz nachdem der Kläger aus dem Zugfenster geklettert war, machte ein anderer Fahrgast den Zugbegleiter hierauf aufmerksam. Dieser verständigte die Landespolizei A. Weitere Maßnahmen ergriff er nicht.
Der Kläger trägt vor, er sei nach dem Hinausklettern aus dem Zugfenster unter den Zug geraten und etwa 300 Meter mitgeschleift worden. Hierdurch oder durch den nachfolgenden Güterzug, der etwa fünf Minuten später die Unfallstelle passierte, seien ihm die genannten Verletzungen zugefügt worden.
Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte sei ihm aufgrund § 1 Abs. 1 HaftpflG schadensersatzpflichtig. Zudem habe der Zugbegleiter vor dem Unfall seine Aufsichtspflicht verletzt, da er den erkennbar alkoholisierten Kläger nach dessen vergeblichem Ausstiegsversuch durch die falsche Tür nicht mehr hätte allein lassen dürfen. Bei Einhaltung der Aufsichtspflicht wäre es zu dem Hinausklettern aus dem Fenster nicht gekommen. Außerdem habe der Zugbegleiter nach dem Unfall gegen die Konzernrichtlinie 408.0581 der Deutschen Bahn AG verstoßen, wonach er bei Gefahr den Zug sofort hätte anhalten (Abschnitt 2 Abs. 1 der Konzernrichtlinie) und einen Nothalteauftrag geben müssen (Abschnitt 3 Abs. 1 der Konzernrichtlinie). Bei einem sofortigen Halt der Regionalbahn wäre der Kläger nicht die gesamte Strecke von 300 Metern mitgeschleift worden, da der Zug hierdurch früher zum Stillstand gekommen wäre. Bei einem Nothalteauftrag wäre eine sofortige Sperrung der Strecke veranlasst worden, so dass keine nachfolgenden Züge (somit auch der Güterzug, bei dem nicht ausgeschlossen werden könne, dass er den Kläger überfahren habe) die Unfallstelle hätten passieren können.
Die Beklagte wendet ein, die Gefährdungshaftung aus § 1 Abs. 1 HaftpflG trete hinter das außerordentlich schwerwiegende Eigenverschulden des Klägers zurück. Im Übrigen treffe sie weder ein organisatorisches Verschulden noch habe sich der Zugbegleiter falsch verhalten. Dieser habe nicht damit rechnen müssen, dass der Kläger durch das Fenster hinausklettere. Der behauptete Verstoß gegen die Konzernrichtlinie hätte an den Unfallfolgen nichts geändert. Die schwere Verletzung des Klägers sei bereits unmittelbar nach seinem Sturz ins Gleisbett eingetreten. Es sei schlechterdings unvorstellbar, ...