Entscheidungsstichwort (Thema)

Gebührenanspruch des Beratungshilfeanwalts: Prüfungskompetenz des Urkundsbeamten hinsichtlich des Vorliegens mehrerer Angelegenheiten; Bindungswirkung der Anzahl der Berechtigungsscheine für das Vergütungsfestsetzungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat im Verfahren über die Festsetzung von Vergütung bei Gewährung von Beratungshilfe (entgegen der überwiegend in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung) grundsätzlich nicht zu prüfen, wie viele Angelegenheiten i.S.d. § 15 RVG vorliegen (Rz. 8).

2. Die Anzahl der zu vergütenden Angelegenheiten ist vielmehr durch die erteilten Berechtigungsscheine vorgegeben. Eine Bindungswirkung der Erteilung des Berechtigungsscheins für das nachfolgende Vergütungsfestsetzungsverfahren ergibt sich aus §§ 4 - 6 BerHG, der Systematik des BerHG sowie den allgemein gültigen Grundsätzen über die Zulässigkeit des Widerrufs begünstigender Verwaltungsakte (Rz. 8)(Rz. 10).

3. Die Ausstellung eines Berechtigungsscheins für Beratungshilfe ist ein Verwaltungsakt gem. § 35 VwVfG. Gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG darf ein begünstigender Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verbietet es daher, dem Rechtsanwalt diesen Vergütungsanspruch gegen die Landeskasse nachträglich im Festsetzungsverfahren zu versagen, nachdem er seine Tätigkeit ausgeübt hat (Rz. 15).

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Normenkette

BeratHiG §§ 4-6; RVG §§ 15, 44; VwVfG §§ 35, 48 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Aurich (Beschluss vom 14.09.2009)

AG Aurich (Beschluss vom 21.07.2009)

AG Aurich (Beschluss vom 19.03.2009)

 

Tenor

Auf die weitere Beschwerde des Antragstellers werden die Beschlüsse der 4. Zivilkammer des LG Aurich vom 14.9.2009 und des AG Aurich vom 21.7.2009 sowie vom 19.3.2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des AG Aurich zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Der Beschwerdeführer verlangt die Festsetzung anwaltlicher Vergütung für Beratungshilfe.

Das AG Aurich stellte Frau J. R. im Verfahren 17 II 1101/08 am 17.6.2008 zunächst einen Berechtigungsschein für Beratungshilfe für die Angelegenheit "Beratung wegen Fälschung von Versicherungsverträgen (Stuttgarter Versicherungs-AG)" aus. Am 25.6.2008 bewilligte es in den Verfahren 17 II 1387/08 bis 1401/08 erneut Beratungshilfe, und zwar jeweils gesondert für jeden betroffenen Versicherungsvertrag. Hierfür stellte es fünfzehn weitere Berechtigungsscheine aus. Die Angelegenheit war jeweils bezeichnet als "Beratung wegen eventueller Fälschung und Falschberatung bei Abschluss von Versicherungsverträgen der Stuttgarter Versicherungs-AG zur Vertragsnummer ...".

Der Beschwerdeführer wurde aufgrund der Berechtigungsscheine für Frau J. R. tätig. Er erreichte, dass sechzehn Versicherungsverträge verschiedener Sparten, die Frau R. bei der S. (Familienschutz-) Versicherung AG unterhielt, durch teilweise inhaltlich verschiedene Vergleiche beendet wurden.

Unter dem 11.2.2009 hat der Beschwerdeführer aufgrund der sechzehn Beratungsscheine jeweils die Festsetzung einer Vergütung bei Beratungshilfe von 255,85 EUR beantragt. Das AG hat die Vergütung im Verfahren 17 II 1101/08 antragsgemäß festgesetzt und die übrigen Anträge mit Beschluss vom 19.3.2009 zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Beschwerdeführers hat das AG Aurich durch Beschluss vom 21.7.2009 zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 14.9.2009 hat das LG die dagegen erhobene sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beschwerdeführer sei in nur einer Angelegenheit tätig geworden und könne daher gem. § 15 RVG die Gebühr nur einmal verlangen. Der Umstand, dass mehrere Berechtigungsscheine ausgestellt worden seien, stehe dieser Entscheidung nicht entgegen, weil die Ausstellung des Berechtigungsscheins im Bewilligungsverfahren keine Bindungswirkung für das Vergütungsfestsetzungsverfahren entfalte.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die vom LG zugelassene weitere Beschwerde.

II. Die weitere Beschwerde ist gem. §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 6 Satz 1 RVG statthaft, weil sie das LG als Beschwerdegericht zugelassen hat. Das Rechtsmittel ist auch zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 6 Satz 4, Abs. 3 Satz 3 RVG).

Die weitere Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Rechtsverletzung (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 6 Satz 2 RVG, § 546 ZPO).

Entgegen der überwiegend in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung (LG Osnabrück, JurBüro 2008, 600 f.; LG Mönchengladbach, AGS 2003, 76; LG Münster JurBüro 1990, 333; LG Tübingen Rpfleger 1986, 239; LG Kleve, JurBüro 1986, 1384; LG ...

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