Leitsatz (amtlich)
I. Ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG kann auch dann vorliegen, wenn der Unfallverursacher die nach den Maßstäben eines Idealfahrers einzuhaltende Geschwindigkeit überschreitet.
II. Bei der Prüfung der Unvermeidbarkeit ist nicht auf die individuellen Fähigkeiten eines am Unfall beteiligten Tieres abzustellen.
Normenkette
StVG § 17 Abs. 3; StVO § 3 Abs. 1 Sätze 2, 4
Verfahrensgang
LG Osnabrück (Urteil vom 02.06.2023; Aktenzeichen 4 O 1363/16) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 02.06.2023 verkündete Urteil des Landgerichts Osnabrück wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Streitwert für die Berufungsinstanz beträgt bis zu 650.000 Euro.
Gründe
I. Der Kläger begehrt Schadenersatz und Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall, der sich am TT.MM.2011 gegen 22:35 Uhr auf der Straße1 zwischen Ort3 und Ort4 auf Höhe des gerade verlaufenden Straßenabschnitts Kilometer 1,25 der Straße2 ereignete. Der Fahrbahnbelag war trocken.
Der Kläger befuhr diese Straße mit seinem Kraftfahrzeug Pkw1, amtliches Kennzeichen (...), in Richtung Ort4. In der Gegenrichtung fuhr die Zeugin DD in Begleitung ihrer Mutter EE das bei der Beklagten haftpflichtversicherte Kraftfahrzeug Pkw2, amtliches Kennzeichen (...). In Fahrtrichtung dieses Fahrzeuges befand sich rechtsseitig ein Getreidefeld mit niedrigem Bewuchs, ein an die Straßenfahrbahn angrenzender Radweg und ein Straßengraben, auf der gegenüber liegenden Seite ein Waldstück. Im Moment der Begegnung der beiden Kraftfahrzeuge sprang aus dem Getreidefeld kommend ein die Straße kreuzendes Reh auf die Fahrbahn. Das Tier geriet gegen die Windschutzscheibe des klägerischen Fahrzeuges, durchschlug diese und traf den Kläger am Kopf. Infolgedessen verlor er die Kontrolle über sein Kraftfahrzeug, das von der Fahrbahn abkam, in den Grabenbereich geriet, dort gegen mehrere Bäume prallte und schließlich im Straßengraben zum Stillstand kam. Der Kläger, der sich vor dem Unfall seit elf Jahren in einer Anstellung als Maschinenführer befand, erlitt durch den Unfall schwerste Verletzungen, die zu anhaltenden körperlichen und kognitiven Einschränkungen führten, infolgedessen er erwerbsunfähig wurde und auf Pflegeleistungen Dritter angewiesen ist. Mit anwaltlichem Schreiben vom 13.09.2013 forderte der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 04.10.2013 zur Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie einer weiteren Zahlung als Vorschuss auf materielle Schadenersatzansprüche auf.
Der Kläger hat behauptet, die Führerin des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeuges sei mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Zum Zeitpunkt des Unfalls habe die zulässige Geschwindigkeit 70 km/h betragen (Bl. 90 Bd. I). Zudem sei ein Warnzeichen, welches auf Gefahren durch Wildwechsel hingewiesen habe, aufgestellt gewesen (Bl. 90 Bd. I). Er hat die Ansicht vertreten, die Fahrerin des bei der Beklagten versicherten Kraftfahrzeuges sei verpflichtet gewesen, ihre Geschwindigkeit deutlich zu reduzieren, da sie an der Unfallstelle mit einem Wildwechsel hätte rechnen müssen (Bl. 5 Bd. I). Ein Idealfahrer wäre höchstens eine Geschwindigkeit von 70 km/h gefahren (Bl. 143 Bd. III). Bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit wäre der Unfall räumlich und zeitlich vermieden worden (Bl. 153 Bd. III). Für eine Vergleichsbetrachtung sei auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem das Reh auf den neben der Fahrbahn befindlichen Weg gesprungen sei (Bl. 143 Bd. III). Bei einer geringeren Geschwindigkeit hätte das bei der Beklagten versicherte Kraftahrzeug den Unfallort erst später erreicht (Bl. 117 Bd. III). Bereits bei einer leichten Verringerung der Geschwindigkeit des gegnerischen Fahrzeuges hätte eine Kollision dieses Fahrzeuges mit dem Reh und damit das Unfallgeschehen vermieden werden können (Bl. 88 Bd. I). Demgegenüber sei der Unfall für ihn unvermeidbar (Bl. 88 Bd. I) gewesen. Er hat behauptet, dass sich das Tier in dem für ihn entfernteren, hinter dem Gegenverkehr liegenden Fahrbahnrand aufgehalten habe (Bl. 88 Bd. I). Zum Zeitpunkt der Kollision sei es noch hell gewesen (Bl. 39 Bd. III).
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch nicht unter 500.000 EUR, nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 05.10.2013 zu bezahlen,
2. die Beklagte weiter zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von 50.385,73 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 25.000 EUR seit dem 05.10.2013 sowie aus weiteren 25.385,73 EUR seit Rechtshängigkeit zu bezahlen,
3. festzust...