Leitsatz (amtlich)
1. Der Verursacher eines Verkehrsunfalls wird nicht von der Haftung für Folgeschäden des verletzten Unfallopfers (hier: hypoxischer Hirnschaden) frei, nur weil diese in weiten Teilen durch einen groben Behandlungsfehler des nach dem Unfall erstbehandelnden Krankenhauses verursacht sind.
2. Gleichwohl kann bei der Abwägung der Schädigerbeiträge im Zuge des Gesamtschuldnerausgleichs der Beitrag des Verkehrsunfallverursachers (hier: Verursachung einer Lungenkontusion und einer Rippenserienfraktur durch Fahrzeugkollision) vollständig hinter den Beitrag des Krankenhauses (hier: hypoxischer Hirnschaden wegen fehlerhafter Reaktion auf Tubusblockade) zurücktreten, wenn der Beitrag des Zweitschädigers wesentlich eher geeignet ist, Schäden der konkreten Art herbeizuführen.
Normenkette
BGB § 823
Verfahrensgang
LG Oldenburg (Urteil vom 23.01.2015; Aktenzeichen 8 O 1675/11) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 8. Zivilkammer des LG O. vom 23.1.2015 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen geändert und wie folgt neu gefasst:
1.) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 265.000,- EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.11.2011 zu zahlen.
2.) Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin von allen weiteren Ansprüchen des Herrn B., geboren am xx. März 19xx, W., in Bezug auf vermehrte Bedürfnisse ab dem 22.7.2011 freizustellen, welche diesem durch die fehlerhafte ärztliche Behandlung am 23.4.2009 entstanden sind oder noch entstehen werden, auch soweit diese auf Sozialversicherungsträger oder andere eintrittspflichtige Dritte übergegangen und von der Klägerin zu erstatten sind.
3.) im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4.) Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
5.) Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Parteien streiten über den Innenausgleich eines Gesamtschuldverhältnisses.
Die Klägerin war Haftpflichtversicherer eines Pkw, mit dem Herr S. am 21.4.2009 die K.-straße in W. außerhalb geschlossener Ortschaft befuhr. In Höhe einer Bushaltestelle geriet er beim Überholen eines am Fahrbahnrand stehenden Pkw auf die Gegenfahrbahn. Dort erfasste er den 42jährigen B., der ihm mit einem Krad entgegenkam. Dieser kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass Herr S. den Unfall allein verursacht hat. Herr B. war nach dem Zusammenstoß zunächst noch wach und ansprechbar. Gegenüber dem Notarzt klagte er über starke rechtsseitige Thoraxschmerzen. Er wurde sediert, intubiert, beatmet und sodann in die Klinik der Beklagten verbracht. Dort stellte man die Diagnose einer rechtsseitigen Rippenserienfraktur mit beidseitiger Lungenkontusion und einer Riss-Quetschwunde am linken Unterschenkel. Herr B. wurde auf der Intensivstation der Beklagten behandelt und dort weiter beatmet. Am 23.4.2009 um 08.30 Uhr kam es zu einem Zwischenfall: Das Beatmungsgerät gab einen Alarm mit der Anzeige "Tubus blockiert". Der herbeigerufene Oberarzt Dr. T. erhöhte zunächst den inspiratorischen Druck und legte sodann eine Bülaudrainage, weil er einen Spannungspneumothorax vermutete. Diese Maßnahme führte jedoch nicht zu einer Entleerung von Luft. In der Zwischenzeit war Herr B. reanimationspflichtig geworden. Dr. T. nahm bei vorübergehender Maskenbeatmung eine Umintubation vor. Sodann stabilisierte sich der Zustand des Patienten. Im weiteren Verlauf zeigte sich jedoch, dass bei Herrn B. eine hypoxische Hirnschädigung eingetreten war.
Am 05.9.2011 schloss die Klägerin mit Herrn B. einen Abfindungsvergleich, wonach dessen Ersatzansprüche aus dem Verkehrsunfall - ausgenommen solche wegen vermehrter Bedürfnisse ab dem 22.7.2011 - mit der Zahlung von 275.000,- EUR abgegolten sein sollten. Der vereinbarte Betrag wurde in der Folgezeit gezahlt.
Die Klägerin hat behauptet, dass die bei Herrn B. eingetretene Hirnschädigung auf grobe Behandlungsfehler der Ärzte der Beklagten zurückzuführen sei. Es hätte bereits am 22.4.2009 eine Extubation vorgenommen werden müssen, da keine Lungenkontusion mehr vorgelegen habe. Eine künstliche Beatmung sei so schnell wie möglich zu beenden. Am 23.4.2009 hätte auf den Alarm des Beatmungsgeräts hin als erste Maßnahme der Tubus kontrolliert werden müssen. Dieser sei verrutscht gewesen. Hätte man den Tubus sofort gewechselt, wäre der Hirnschaden wahrscheinlich zu verhindern gewesen. Ein Spannungspneumothorax habe nicht vorgelegen und auch nicht nahegelegen, weshalb die Anlage einer Thoraxdrainage als erste Maßnahme verfehlt gewesen sei. Zumindest hätte keine Bülaudrainage gelegt werden dürfen. Die Punktion mit einer großvolumigen Venenve...