Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber einem 2 1/2-jährigen Kind; Haftung wegen fehlender Beaufsichtigung des in einem Pkw nicht angeschnallten Kindes
Leitsatz (amtlich)
1. Die Eltern verletzen die Aufsichtspflicht gegenüber ihren 2 1/2-jährigen Kind, wenn sie dieses nicht angeschnallt unbeaufsichtigt in einen Pkw zurücklassen, wo der Fahrzeugschlüssel im Griffweite liegt.
2. Kommt es zu einer Verletzung Dritter, weil es dem Kind gelingt, den Schlüssel zu ergreifen und das Fahrzeug damit zu starten, so können die haftenden Eltern sich nicht darauf berufen, dass die zum Schadensereignis führende Kausalkette derart außergewöhnlich ist, dass sie nicht damit hätten rechnen müssen.
Verfahrensgang
LG Osnabrück (Urteil vom 19.10.2022; Aktenzeichen 10 O 1730/21) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Osnabrück - 10 O 1730/21 - vom 19. Oktober 2022 geändert.
1. Die Klageanträge zu 1., 3. und 4. sind dem Grunde nach gerechtfertigt.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren erforderlichen Aufwendungen und Schäden zu ersetzen, die aus Anlass der am TT.MM.2018 gegen 17.30 Uhr auf dem Anwesen Straße1 in Ort3 erlittenen Unfalls ihrer Versicherten EE, geboren TT.MM.1961, entstanden sind bzw. noch entstehen.
II. Wegen der Höhe der Klageforderung wird der Rechtsstreit auf Antrag der Klägerin zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich des Berufungsverfahrens übertragen wird.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer Aufsichtspflichtverletzung aus übergegangenem Recht der bei ihr gesetzlich krankenversicherten EE in Anspruch. EE ist die Mutter der Beklagten.
Am TT. MM 2018 waren EE, die Beklagte, deren zweieinhalbjähriger Sohn FF und weitere Personen zu Besuch bei dem Familienmitglied GG an der Straße1 in Ort3. Gegen 17:30 Uhr wollte die Beklagte aufbrechen. EE und GG saßen zu diesem Zeitpunkt auf einer Bank vor dem Haus. Vor der Bank, in ca. 1,5m Entfernung, stand der bei der Nebenintervenientin haftpflichtversicherte Pkw1 des Ehemanns der Beklagten. Der Kindersitz von FF befand sich auf dem Beifahrersitz. Die Beklagte setzte ihren Sohn in den Sitz, schnallte ihn aber zunächst nicht an. Dann ging sie noch mal in das Haus, da sie etwas vergessen hatte, und ließ FF unangeschnallt im Kindersitz zurück. Der Fahrzeugschlüssel verblieb im Auto auf dem Armaturenbrett. FF gelang es während der Abwesenheit der Beklagten, mit dem Schlüssel den Motor des Pkw1 zu starten, woraufhin der Pkw einen Satz nach vorne machte und EE an den Knien traf. Diese erlitt durch den Unfall eine beidseitige Kniegelenksluxation. GG wurde ebenfalls verletzt. Auch hinsichtlich der von ihr erlittenen Schäden war ein Rechtsstreit zwischen den Parteien anhängig (AG Osnabrück 14 C 1427/21 = LG Osnabrück 10 S 130/22).
Die Klägerin hat gemeint, die Beklagte habe ihre Aufsichtspflicht verletzt, und behauptet, der Zündschlüssel habe auf dem Armaturenbrett vor dem Beifahrerplatz gelegen. Zur Behandlung der unfallbedingten Verletzungen seien ihr Aufwendungen von insgesamt 77.711,71 EUR entstanden. Es seien weitere Aufwendungen zu erwarten, insbesondere für den Einsatz eines künstlichen Kniegelenks. Der Arbeitgeber der Versicherten habe eine Entgeltfortzahlung geleistet und seinen Anspruch gegen die Beklagte in Höhe von 1.383,20 EUR an sie, die Klägerin, abgetreten.
Die Beklagte und die Nebenintervenientin haben gemeint, eine Aufsichtspflichtverletzung sei nicht gegeben. Mit dem Verhalten von FF sei nicht zu rechnen gewesen. Der Zündschlüssel habe, so haben sie behauptet, zusammengeklappt mittig auf dem Armaturenbrett kurz vor der Windschutzscheibe gelegen. FF habe aus dem Kindersitz klettern müssen, um an den Schlüssel zu gelangen. Danach habe er den Schlüssel entriegeln, auf den Fahrersitz klettern, den Schlüssel in das Zündschloss stecken und diesen dann soweit in die richtige Richtung drehen müssen, dass der Anlasser starten konnte. FF sei gar nicht groß genug, um im Fußraum stehend den Schlüssel zu ergreifen. Er habe vor dem Unfalltag erst zweimal auf dem Beifahrersitz gesessen, zuvor ausschließlich auf der Rücksitzbank. Die Beklagte habe den Schlüssel nicht mitgenommen, da ihre Hose über keine Taschen verfügt habe. Sie habe das Auto lediglich für eine Zeitdauer von ein bis zwei Minuten verlassen. Die Fahrer- und Beifahrertür seien weit geöffnet gewesen, neben dem Fahrzeug hätten Familienangehörige der Beklagten gestanden. Eine direkte Sichtbeziehung dieser Angehörigen zu FF sei vorhanden gewesen. Die Beklagte und die Nebenintervenientin haben weiter die Schadenshöhe bestritten. Die Aufstellungen der Klägerin seien nicht verständlich und nachprüfbar. Die geltend gemachten Kosten seien nicht erforderlich gewesen. Zukunftsschäden seien nicht zu erwarten, insbesondere nicht das Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks.
Das Landgericht hat die Kla...