Leitsatz (amtlich)
Die vier Monate vor einer Koloskopie erfolgte Aushändigung eines Perimed-Bogens, den der Patient am Behandlungstage dem Personal des Arztes übergibt, ersetzt nicht das erforderliche Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patient.
Der Einwand der hypothetischen Einwilligung muss bereits in erster Instanz erhoben werden, wenn aufgrund eines Beweisbeschlusses in Betracht zu ziehen ist, dass eine Verurteilung wegen unzureichender Aufklärung erfolgen könnte. Dies gilt auch, wenn anschließend ein Sachverständiger die Aufklärung aus medizinischer Sicht für ausreichend erachtet.
Verfahrensgang
LG Oldenburg (Urteil vom 08.02.2008; Aktenzeichen 8 O 380/07) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 8. Zivilkammer des LG Oldenburg vom 8.2.2008 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels geändert und
1. der Beklagte verurteilt, an den Kläger 70.099,59 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 2.3.2007 zu zahlen,
2. festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeglichen zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, sofern dieser auf den Vorgang vom 4.9.2006 zurückzuführen ist, soweit er nicht auf Dritte übergegangen ist,
3. der Beklagte verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Kosten i.H.v. 928,20 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 2.3.2007 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
A. Der Kläger verlangt Ersatz materieller und immaterieller Schäden sowie die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten im Zusammenhang mit einer Koloskopie am 4.9.2006.
Der Kläger begab sich am 3.5.2006 wegen seit einigen Wochen festgestellter Blutbeimengungen im Stuhl in die Behandlung des Beklagten. Der Beklagte, Facharzt für innere Medizin und Gastroenterologie, stellte im Rahmen einer proktologischen Untersuchung am gleichen Tage Hämorrhoiden fest und führte eine Sklerosierungsbehandlung durch. Für eine im weiteren Behandlungsverlauf vorgesehene Koloskopie erhielt der Kläger das Abführmittel Endofalk und einen Perimed-Aufklärungsbogen "Koloskopie ggf. mit endoskopischer Resektion (Polypektomie/Mukosektomie)". Diesen unterzeichnete er unter dem Datum 4.9.2006. An diesem Tag führte der Beklagte eine erneute proktologische Untersuchung mit Sklerosierung der Hämorrhoiden sowie eine Koloskopie durch. In deren Verlauf entfernte er zwei Polypen. Während des ohne Sedierung erfolgten Eingriffs verspürte der Kläger einen stechenden Schmerz. Nach der Koloskopie wurde der Kläger nach Hause entlassen. Da er in der folgenden Nacht unter zunehmenden stechenden abdominellen Schmerzen litt, stellte er sich am 5.9.2006 erneut beim Beklagten vor, der den Kläger nach Durchführung einer Ultraschalluntersuchung mit Verdacht auf eine Kolonperforation nach Polypektomie in das Klinikum Oldenburg überwies. Dort wurde am 5.9.2006 laparatomisch eine Sigmaresektion durchgeführt. Intraoperativ zeigte sich im Bereich des mittleren Sigmas eine stecknadelkopfgroße Perforationsstelle sowie eine beginnende diffuse Peritonitis. Der postoperative Verlauf gestaltete sich zunächst unauffällig. Am 13.9.2006 kam es plötzlich zu einer Fasziendehiszenz mit Austritt einer Dünndarmschlinge. Es erfolgte eine Revisionsoperation. Am 15.9.2006 erfolgte aufgrund ansteigender Infektionsparameter und einer putriden Sekretion aus den abdominellen Drainagen ein weiterer operativer Eingriff, bei welchem ein künstlicher Darmausgang gelegt wurde. Eine weitere Revision mit erneuter Spülung erfolgte am 16.9.2006. Die Entlassung aus der Klinik erfolgte am 4.10.2006. Eine Rückverlegung des künstlichen Darmausgangs ist bis heute nicht erfolgt.
Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe gegen die Regeln der ärztlichen Heilkunst verstoßen, indem er mit dem Koloskop das Sigma beschädigt habe. Anders sei der von ihm während des Eingriffs verspürte Stechschmerz nicht zu erklären. Der Beklagte habe die Koloskopie am 4.9.2006 nicht durchführen bzw. fortsetzen dürfen, da ausweislich des ärztlichen Berichts die Sicht wegen Stuhlverunreinigungen eingeschränkt gewesen sei. Dafür spreche auch die während der Operation vom 5.9.2006 festgestellte Peritonitis, die bei einem leeren Darm nicht hätte auftreten können. Ferner sei dem Beklagten als postoperatives Versäumnis vorzuwerfen, dass er es trotz des während des Eingriffs aufgetretenen stechenden Schmerzes unterlassen habe, sogleich die Darmwand entweder mittels eines Endoskops oder durch Ultraschall auf Perforationsstellen zu untersuchen und den Kläger sodann in die Klinik einzuweisen. Dadurch wäre die Entwicklung einer Peritonitis verhindert worden.
Darüber hin...