Leitsatz (amtlich)
Der Widderruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist auch aufgrund einer neuen Tat möglich, die nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit aber noch vor Erlass eines rückwirkenden Verlängerungsbeschlusses begangen worden ist. Es ist allein darauf abzustellen, dass die Tat und die (verlängerte) Bewährungszeit fällt. Maßgeblich für die Zulässigkeit des Widerrufs ist allein die Frage des allgemeinen Vertrauensschutzes. Der Widerruf ist möglich, wenn schutzwidriges Vertrauen des Verurteilten - z. B. durch entsprechende Hinweise des Gerichts - nicht entstehen konnte.
Verfahrensgang
LG Neubrandenburg (Entscheidung vom 24.10.2006; Aktenzeichen 6 StVK 301/06) |
Tenor
1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
2. Die durch Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 24.10.2006 - 6 StVK 301/06 - gewährte Strafrestaussetzung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Stralsund, Zweigstelle Grimmen, vom 28.09.2004 - 92 Ds 742/04 - wird widerrufen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Verurteilten auferlegt.
Gründe
I. Die von der Staatsanwaltschaft eingelegte sofortige Beschwerde vom 21.10.2010 richtet sich gegen den Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 13.10.2010, mit welchem die I. Große Strafkammer als Strafvollstreckungskammer - 6 BRs 477/06 (StVK 271/08) - den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der mit Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 24.10.2006 (Az.: 6 StVK 301/06) gewährten Aussetzung der Vollstreckung des Rests der gegen den Verurteilten durch Urteil des Amtsgerichts Stralsund, Zweigstelle Grimmen, vom 28.09.2004 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe abgelehnt hat.
Der angefochtene Beschluss ist der Staatsanwaltschaft am 19.10.2010 zugestellt worden. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist am 21.10.2010 bei dem Landgericht Neubrandenburg eingegangen.
II. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthaft sowie form- und fristgerecht angebracht (§§ 306, 311 Abs. 2 StPO), mithin zulässig.
Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zum Widerruf der Strafrestaussetzung.
1. Nach § 56f Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 57 Abs. 5 Satz 1 StGB widerruft das Gericht die Strafrestaussetzung, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafrestaussetzung zu Grunde lag, sich nicht erfüllt hat und mildere Mittel nicht ausreichen, den Verurteilten künftig von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.
2. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Verurteilte ist in der Nacht vom 14. zum 15.11.2009 erneut - einschlägig - straffällig geworden. Das Amtsgericht Stralsund - 16 Ds 145/10 - verurteilte ihn deswegen am 16.06.2010 - rechtskräftig seit demselben Tag - wegen Diebstahls zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten, die z.Zt. vollstreckt wird. Der Verurteilte ist bereits zuvor in erheblichem Maße strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat Strafhaft verbüßt.
Die ursprünglich festgesetzte Bewährungszeit lief am 06.11.2009 ab. Die Tatsache, dass er nur wenige Tage danach erneut eine Straftat begangen hat, ist vorliegend für die prognostische Beurteilung von nachhaltiger Bedeutung und begründet durchgreifende Zweifel an einer Legalprognose dahin, dass sich dieser Verurteilte um strafrechtliche Pflichtenmahnungen nicht im Geringsten kümmert.
a.) Entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer kann die am 14./15.11.2009 begangene Tat als Widerrufsgrund herangezogen werden.
Zwar endete die zunächst bestimmte Bewährungszeit am 06.11.2009; erst mit Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 23.02.2010 wurde wegen einer in der ursprünglichen Bewährungszeit begangenen weiteren Straftat (Urteil des Amtsgerichts Stralsund vom 16.09.2009 - 15 Ds 237/09 - = 542 Js 8241/09 StA Stralsund - Verurteilung wegen eines Diebstahls/einer Hehlerei, begangen am 29.03.2009, zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung) die Bewährungszeit verlängert bis zum 06.11.2010.
Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur schließt sich eine nach Ablauf der Bewährungszeit angeordnete Verlängerung rückwirkend unmittelbar an die abgelaufene Bewährungszeit an (OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 127f.).
b.) Streitig ist allerdings, ob eine Tat zum Widerruf herangezogen werden kann, wenn deren Tatzeit in die rückwirkend verlängerte Bewährungszeit fällt.
(1) Überwiegend wurde bislang die Meinung vertreten, dass dieses unzulässig sei und die zwischen Ablauf der Bewährungszeit und dem nachfolgenden Verlängerungsbeschluss liegenden Zeiträume eine "bewährungsfreie Zeit" darstellen, so dass Straftaten, die in dieser Zeit begangen wurden, nicht - sondern nur "formal" - in die Bewährungszeit fallen und keinen Widerrufsgrund darstellen (OLG Frankfurt, NStZ-RR 2008, 221; OLG Köln, Beschluss vom 27.01.2006, 2 Ws 37/06 - juris; OLG Jena, NStZ-RR 2007, 220; OLG Düsseldorf, StV 1994, 382).
(2) Nach der im Vordringen begriffenen vor...