Leitsatz (amtlich)

1. Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens ist ein konkretes formelles Vergabeverfahren, auf das sich die Eingriffsbefugnisse der Nachprüfungsinstanzen hinsichtlich der Maßnahmen der Vergabestelle beschränken; im Falle einer parallelen Neuausschreibung der Leistungen durch den öffentlichen Auftraggeber kann der Bieter primären Rechtsschutz gegen einen damit einhergehenden vermeintlichen Vergaberechtsverstoß daher allein in einem Nachprüfungsverfahren erlangen, welches sich auf die zweite Ausschreibung bezieht (Anschluss an OLG Naumburg, Beschluss vom 31. Juli 2006 - 1 Verg 6/06 und OLG Koblenz, Beschluss vom 10. April 2003 - 1 Verg 1/03).

2. Im Falle eines Verstoßes des öffentlichen Auftragsgebers gegen § 3 Abs. 7 Satz 3 und Abs. 9 VgV kommt eine Rechtsverletzung des Bieters gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 GWB durch eine nationale statt eine europaweite Ausschreibung in Betracht, wenn er von dem Vergabeverfahren nur zufällig Kenntnis erlangt und ihm in der Folge die Angebotsfrist lediglich noch in verkürztem Umfang für die Erarbeitung einer Bewerbung zur Verfügung steht.

3. Von vornherein untauglich für die Begründung eines besonderen Beschleunigungsinteresses des Auftraggebers im Sinne von § 169 Abs. 2 GWB sind allgemein gehaltene Verweise auf die Bedeutung seiner Aufgaben auf regionaler oder nationaler Ebene, wenn davon insbesondere nicht der Bereich der Daseinsvorsorge oder nach der genannten Vorschrift in der Regel als überwiegend anzusehende Sicherheits- und Verteidigungsinteressen betroffen sind.

4. Bei einem Großvorhaben im Baubereich, das sich noch in der Anfangsphase befindet, lässt sich die Gestattung eines vorzeitigen Zuschlages nicht auf finanzielle Einbußen stützen, welche im Falle einer hinausgeschobenen Fertigstellung frühestens in einigen Jahren zu erwarten wären, wenn die Möglichkeit der zwischenzeitlichen Kompensierung von Verzögerungen, die durch das anhängige Nachprüfungsverfahren eintreten, im weiteren Bauverlauf nicht ausgeschlossen ist.

5. Ebenso wenig kann für eine erhöhte Dringlichkeit der vorzeitigen Zuschlagserteilung die Dauer eines bereits vorangegangenen Vergabeverfahrens angeführt werden, weil ansonsten die Verzögerungen, welche durch die Dauer des Nachprüfungsverfahrens zu einer ersten Teilausschreibung für das Gesamtbauvorhaben verursacht wurden, den vorzeitigen Zuschlag ebenso bei allen noch ausstehenden Vergaben weiterer Leistungen bedingten und die §§ 155 ff. GWB für das restliche Projekt leer liefen.

 

Normenkette

GWB § 97 Abs. 6, § 167 Abs. 1, § 169 Abs. 1, 2 S. 1, § 173 Abs. 1 S. 3

 

Verfahrensgang

VK Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 02.09.2021; Aktenzeichen 3 VK 10/21)

 

Tenor

I. Auf den Antrag der Antragstellerin wird der Beschluss der Vergabekammer vom 02.09.2021 (Az.: 3 VK 10/21) aufgehoben.

II. Das Zuschlagsverbot nach § 169 Abs. 1 GWB wird wiederhergestellt.

III. Die Kosten des Antragsverfahrens nach § 169 Abs. 2 Satz 7 GWB vor dem Vergabesenat einschließlich der notwendigen Auslagen der Antragstellerin trägt die Antragsgegnerin.

IV. Der Streitwert wird auf bis zu 140.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren der Wiederherstellung eines Zuschlagsverbotes, nachdem die Vergabekammer dieses aufgehoben hat.

Die Antragsgegnerin ist eine Stiftung bürgerlichen Rechts, deren satzungsgemäßer Zweck in der Förderung von Kultur, Wissenschaft und Forschung sowie im Betrieb des [...] als allgemeinbildende, wissenschaftliche, kulturelle, gemeinnützige und gesamtstaatliche repräsentative Einrichtung mit insgesamt [...] Standorten besteht; der Verwaltungsrat als oberstes und aufsichtsführendes Organ der Stiftung setzt sich mehrheitlich aus Vertretern der Hansestadt X, der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern sowie des Bundes zusammen. Seit dem Jahr 2017 betreibt die Antragsgegnerin ein Bauvorhaben [...] in der X-er Altstadt mit einem Gesamtvolumen von knapp 40.000.000,00 EUR.

Am [...] machte die Antragsgegnerin in einem EU-weiten offenen Verfahren die Ausschreibung des Auftrages zur Herstellung von Baugruben, Verbau und Tiefgründung einschließlich Spezialtiefbau für dieses Bauvorhaben bekannt mit dem Preis als alleinigem Zuschlagskriterium, wobei das Projektmanagement im Wege einer Bepreisung des zu den Vergabeunterlagen gehörenden Leistungsverzeichnisses am 10.08.2020 zu einem geschätzten Auftragswert in Höhe von 2.139.555,74 EUR gelangte. Nach dem Submissionsergebnis vom 25.08.2020 gab die Antragstellerin das einzige Angebot mit einer Auftragssumme in Höhe von 4.934.258,32 EUR brutto ab. Daraufhin teilte das Projektmanagement der Antragsgegnerin ihr mit Schreiben vom 09.09.2020 mit, dass aus wirtschaftlichen Gründen eine Aufhebung des Vergabeverfahrens notwendig sei, weil das Angebot die zur Verfügung stehenden Mittel um knapp 130 Prozent übersteige, und kündigte gleichzeitig eine erneute Ausschreibung der Bauleistungen an; der Direktor der Antragsgegnerin ergänzte den Vergabevermerk über die Verfahrensaufhebung unter Verwendung des Formblat...

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