Leitsatz (amtlich)

1. Eine im Jahr 2005 abgeschlossene Lebensversicherung ist im Policenmodell zustande gekommen, wenn in den Verbraucherinformationen ein Hinweis auf die Antragsbindungsfrist fehlt; das Informationsbedürfnis des Versicherungsnehmers ist abstrakt und nicht in Abhängigkeit davon zu beurteilen, welcher Zeitraum zwischen Antragstellung und Vertragsschluss liegt (entgegen OLG Jena, Urteil vom 31.07.2020, Az.:4 U 1245/19).

2. Wenn es an einer Widerspruchsbelehrung in dem Übersendungsschreiben in drucktechnisch deutlicher Form fehlt, ist dem Versicherungsnehmer eine Ausübung des Lösungsrechts nicht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen möglich wie im Falle einer ordnungsgemäßen Belehrung (Abgrenzung zu EuGH, Urteil vom 19.12.2019, Az.: C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18).

3. Ein Nutzungsersatz zu Gunsten des Versicherungsnehmers scheidet bei der Rückabwicklung einer Lebensversicherung nicht deshalb dem Grunde nach aus, weil er in der Richtlinie 2002/83/EG nicht vorgesehen ist.

4. Einer Heranziehung der so genannten Nettoverzinsung für die Berechnung eines Nutzungsersatzes steht nicht entgegen, dass ihre Höhe auf einem kollektiven Kapitalanlageprozess beruht.

5. Für die Festsetzung des Streitwertes einer Klage auf Rückabwicklung einer Lebensversicherung sind die mit herausverlangten Nutzungen außer Betracht zu lassen, weil sie jedenfalls im Hinblick auf den Gebührenstreitwert gemäß § 43 GKG als neutral anzusehen sind (Anschluss an OLG Celle, Beschluss vom 04.03.2019, Az.: 8 U 275/18; entgegen OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.02.2019, Az.: 12 W 1/19).

 

Normenkette

BGB § 812 Abs. 1, § 818 Abs. 1; GKG § 43 Abs. 1, § 48 Abs. 1 S. 1; VAG § 10a; VVG § 5a Abs. 2 S. 1; ZPO § 3

 

Tenor

I. Den Parteien wird unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten anheimgestellt,

a. im Falle der Klägerin ihre Berufung insgesamt sowie die Klage bezüglich der Zahlungsanträge zu 1) und 2) insoweit zurückzunehmen, als mehr als (19.566,89 EUR + 2.706,69 EUR =) 22.273,58 EUR zuzüglich Jahreszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 19.566,89 EUR seit dem 29.04.2017 sowie aus 2.706,69 EUR seit dem 09.11.2017 geltend gemacht werden, und

b. im Falle der Beklagten in die teilweise Klagerücknahme einzuwilligen und ihre Berufung im Übrigen zurückzunehmen.

II. Sollten die Parteien der Abgabe der vorgeschlagenen Prozesserklärungen zur Erledigung des Rechtsstreits nicht näher treten können, wird zur Vermeidung eines ansonsten erforderlichen Termins zur mündlichen Verhandlung vorsorglich eine Zustimmung zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren anheimgestellt. Die Parteien werden für diesen Fall gebeten, binnen der hier gesetzten Frist mitzuteilen, ob sie

a) auf die Einreichung weitere Schriftsätze nach Anordnung des schriftlichen Verfahrens sowie

b) auf die gesonderte Mitteilung des Verkündungstermins

verzichten.

III. 1. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird vorläufig auf bis zu 22.000,00 EUR festgesetzt.

2. Es ist beabsichtigt, den Streitwertbeschluss des Landgerichts vom 06.02.2020 von Amts wegen abzuändern und dahingehend neu zu fassen, dass der Streitwert für den ersten Rechtszug ebenfalls auf bis zu 22.000,00 EUR festgesetzt wird.

IV. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

 

Gründe

A. Die zulässige Berufung der Beklagten erscheint nach vorläufiger Einschätzung der Sach- und Rechtslage weit überwiegend unbegründet.

1. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Rückerstattung geleisteter Versicherungsbeiträge in Höhe von 19.566,89 EUR gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB (Leistungskondiktion).

a. Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass die Beklagte die Versicherungsprämien der Klägerin rechtsgrundlos erlangt hat, weil der Versicherungsvertrag aufgrund des Widerspruchs der Klägerin gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a. F. nicht wirksam zustande gekommen ist.

aa. Die Versicherungsverträge wurden nicht nach dem Antragsmodell, sondern im Policenmodell geschlossen, weil die Beklagte bei Antragstellung die nach § 10a Abs. 1 Satz 1 VAG a. F. erforderliche Verbraucherinformation nicht vollständig erteilt hat.

(1) Dafür reichte der unstreitig fehlende Hinweis auf die Antragsbindungsfrist aus, auch wenn sich diese Informationspflicht nur auf die allgemeine gesetzliche Regelung des § 147 Abs. 2 BGB bezieht.

(a) Richtig ist, dass nach Art. 36 Abs. 3 der Richtlinie 2002/83/EG ein Mitgliedstaat der Europäischen Union von den Versicherungsunternehmen nur dann die Vorlage von Angaben zusätzlich zu den in dem dortigen Anhang III) genannten Auskünften verlangen kann, wenn diese für das tatsächliche Verständnis der wesentlichen Bestandteile der Versicherungspolice durch den Versicherungsnehmer notwendig sind, und die nach dieser Vorschrift vorgesehenen (Mindest)Angaben gegenüber dem Vertragspartner des Versicherers sich nicht auf solche zu einer Antragsbindungsfrist erstrecken. Allerdings liegt der Regelung durch den deutschen Gesetzgeber in § 10a Abs. 1 S...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge