Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen und Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit eines hochbetagten Angeklagten im Strafprozess

 

Normenkette

StPO § 203; GG Art. 2 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Neubrandenburg (Entscheidung vom 17.06.2015; Aktenzeichen 60 Ks 1/15)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Schwerin wird der Beschluss der 60. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Neubrandenburg vom 17.06.2015 - 60 Ks 1/15 - aufgehoben.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft Schwerin vom 23.02.2015 - 111 Js 28330/13 (136) - wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Landgericht Neubrandenburg - Schwurgericht - eröffnet.

2. Die Kosten- und Auslagentragung im Beschwerdeverfahren folgt jener in der Hauptsache.

3. Der Verletzte W. P. ist berechtigt, sich dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen.

 

Gründe

I.

Mit Anklageschrift vom 23.02.2015 hat die Staatsanwaltschaft Schwerin gegen den mittlerweile 95 Jahre alten Angeschuldigten Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 3681 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zum Landgericht Neubrandenburg - Schwurgericht - erhoben. Sie legt ihm zur Last, im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in der Zeit vom 15.08. bis zum 14.09.1944 durch seine Tätigkeiten als Sanitätsdienstgrad und Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel das arbeitsteilige Lagergeschehen und insbesondere auch den ihm bekannten industriellen Ablauf der dort vorgenommenen Massentötungen unterstützt und gefördert zu haben.

Mit Beschluss vom 17.06.2015 - 60 Ks 1/15 - hat die Schwurgerichtskammer die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen eines dauerhaften Verfahrenshindernisses aufgrund - von ihr angenommener - absoluter Verhandlungsunfähigkeit des Angeschuldigten aus rechtlichen Gründen abgelehnt und ihm für die vom 17.03.2014 bis zum 10.04.2014 erlittene Untersuchungshaft Entschädigung zugesprochen. Die Kammer stützt sich dabei auf das Gutachten der Amtsärztin Dr. med. P. vom 18.05.2015, die wiederum, soweit ersichtlich, u.a. auf das von der Verteidigung beigebrachte nervenfachärztliche Gutachten des Dr. med. H. vom 30.03.2015 sowie auf das ebenfalls durch die Verteidigung vorgelegte psychologische Gutachten des Dr. phil. Habil. L. vom 02.06.2014 abhebt, die sämtlichst den Angeschuldigten für dauerhaft verhandlungsunfähig erklären.

Gegen diesen ihr bereits am 19.06.2015 bekannt gegebenen und am 25.06.2015 zugestellten Beschluss richtet sich die am 24.06.2015 beim Landgericht eingegangene sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Schwerin vom selben Tag. Dem Rechtsmittel ist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 17.07.2015 mit dem Antrag beigetreten, ein weiteres Gutachten zur Frage der Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten einzuholen.

Zur Vorbereitung der Beschwerdeentscheidung hat der Senat durch Beschluss vom 03.08.2015 die Einholung eines Sachverständigengutachtens über den Angeschuldigten zur Frage seiner Verhandlungsfähigkeit angeordnet. Das Gutachten sollte sich insbesondere zu den Fragen äußern, ob die Fähigkeit des Angeschuldigten, in oder außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen, durch schwere körperliche oder seelische Mängel oder Krankheiten vorübergehend oder auf Dauer aufgehoben ist oder - eingeschränkt - fortbesteht. Im Falle eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit sollte das Gutachten Aussagen zu angepasster Verhandlungsführung (Pausen, Unterbrechungen, ärztliche Aufsicht etc.) treffen. Zum Sachverständigen hat der Senat Prof. Dr. med. S. T., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und zugleich Leiter der Sektion Gerontopsychosomatik und demenzielle Erkrankungen der ..., bestellt.

Der Sachverständige Prof. Dr. T. hat unter dem 30.10.2015 sein psychiatrisches Gutachten nebst neuropsychologischem Zusatzgutachten der Neuropsychologin K. B. vom 22.10.2015 vorgelegt, in dem er dem Angeschuldigten eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit attestiert. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte daraufhin mit Zuschrift vom 09.11.2015, den angefochtenen Nichteröffnungsbeschluss aufzuheben, die Anklage der Staatsanwaltschaft Schwerin vom 23.02.2015 zur Hauptverhandlung zuzulassen und das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht des Landgerichts Neubrandenburg zu eröffnen.

Die Verteidiger des Angeschuldigten haben rechtliches Gehör zu dem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Schwerin, dem Sachverständigengutachten des Prof. Dr. med. T. nebst Zusatzgutachten und der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft erhalten. Hiervon hat die Verteidigung mit Schriftsätzen vom 23.11.2015 Gebrauch gemacht.

II.

Die gem. § 210 Abs. 2 StPO statthafte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Schwerin ist form- und fristgemäß erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO), mithin zulässig.

Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet. Der Senat vermag, abweichend vom Landgericht, auf der Grundlage der zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse - au...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?