Leitsatz (amtlich)
1. Die fehlerhafte Befundung eines CTG kann einen fundamentalen Diagnoseirrtum darstellen.
2. Zu den Pflichten einer Hebamme nach Aufnahme einer Schwangeren als Notfall im Krankenhaus.
Normenkette
BGB § 249 ff., § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Stralsund (Urteil vom 22.05.2019; Aktenzeichen 6 O 215/14) |
Tenor
1. Die Berufungen der Beklagten zu 1) bis 3) gegen das Grund- und Teilurteil des Landgerichts A. vom 22.05.2019, Az. 6 O 215/14, werden zurückgewiesen.
2. Die Beklagten zu 1) bis 3) haben als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Stralsund ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten zu 1), 2) und 3) können die Vollstreckung wegen der Kosten des Berufungsverfahrens gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 1.480.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerinnen beanspruchen - soweit in der Berufungsinstanz noch streitgegenständlich - von den Beklagten zu 1) bis 3) aus übergegangenem Recht Schadensersatz wegen eines Geburtsschadens des am 27.07.2009 geborenen und am 25.09.2021 verstorbenen Kindes T., das bei ihnen familienversichert war.
Die bei den Klägerinnen versicherte K. (im Weiteren: Kindesmutter) gebar am 27.07.2009 ihr erstes Kind, T. (im Weiteren: Kind).
Der Beklagte zu 1) ist Gynäkologe und betreute die Kindesmutter, als diese schwanger war. Errechneter Geburtstermin war der 15.08.2009. Am 27.07.2009, einem Montag, suchte die Kindesmutter den Beklagten zu 1) auf, weil seit Donnerstag die Kindsbewegungen nachgelassen hatten. Der Beklagte zu 1) ließ zwischen 14:30 und 15:06 Uhr ein CTG aufzeichnen, das er mit einem Fischer-Score von 7 bewertete ("S 7"). Der Beklagte zu 1) wies die Kindesmutter mit der Diagnose 036.5 und mit dem Zusatz "Kreißsaal sofort" zur stationären Aufnahme in das Krankenhaus der Beklagten zu 2) ein. Als Untersuchungsergebnisse vermerkte er "abnehmende KB, CTG eingeschränkt, teilweise saltatorisch". Die Kindesmutter und ihr Lebensgefährte fuhren sodann mit dem Auto in die 5 Minuten Fußweg entfernte Klinik der Beklagten zu 2), nachdem eine Mitarbeiterin des Beklagten zu 1) ihr zuvor den fußläufigen Weg zur Klinik erläutert hatte.
An der Anmeldung der Beklagten zu 2) wurden gegen 16:27 Uhr die Daten der Kindesmutter aufgenommen, die jedenfalls den Mutterpass und den Überweisungsschein übergab. Sodann wurde die Kindesmutter zum Kreißsaal geschickt, wo sie von der bei der Beklagten zu 2) tätigen Hebamme, der Beklagten zu 3), empfangen wurde. Die Beklagte zu 3) begann um 16:47 Uhr eine CTG-Registrierung und entfernte sich. Da die Herztöne "weg waren", schlug das CTG Alarm, sodass der Lebensgefährte der Kindesmutter die Beklagte zu 3) zurückholte. Diese drehte die Kindesmutter auf die Seite, verschob den Schallknopf so lange, bis die Herztöne wieder zu hören waren, und entfernte sich erneut. Ab 17:08 Uhr wies die fetale Herzfrequenz einen silenten Verlauf und nahtlosen Übergang in eine schwere Dezeleration mit terminaler Bradykardie auf. Die Herztöne sanken ab, bis sie nicht mehr zu vernehmen waren. Es kam zum Abfall der Baseline innerhalb von 5 Minuten von 140 auf 80 bpm. Nach ihrer Rückkehr in den Kreißsaal wollte die Beklagte zu 3) eine Ultraschalluntersuchung durchführen. Da sie in diesem Moment erkannte, dass etwas nicht stimmte, konsultierte sie die diensthabende Gynäkologin, die Beklagte zu 4). Bei deren Eintreffen im Kreißsaal um 17:21 Uhr war das CTG beendet. Nach Erhebung der nötigsten Befunde stellte die Beklagte zu 4) um 17:27 Uhr die Indikation zur Notsectio, die dann um 17:41 Uhr durchgeführt wurde.
Das Kind wies bei der Geburt einen APGAR 0/0/0 auf sowie einen pH-Wert von 6,82. Nach erfolgreicher Reanimation entwickelte es typische Zeichen und Symptome einer hypoxiebedingten periventrikulären Leukomalazie und schließlich eine Porenzephalie. Im weiteren Verlauf entwickelten sich ein Hirnödem sowie mehrfach bein- und linksbetonte rhythmische Myoklonien. Im EEG zeigte sich eine generalisierte Anfallsaktivität.
T. war schwerstbehindert und auf eine umfassende Pflege und Hilfe sowie Therapie angewiesen. Er ist am 25.09.2021 verstorben.
Die Klägerinnen haben behauptet, der Beklagte zu 1) habe das CTG vom 27.07.2009 fehlerhaft ausgewertet, weil es keinesfalls als saltatorisch hätte bezeichnet werden können; vielmehr sei es stark eingeengt gewesen. Der Fischer-Score habe nicht bei 7, sondern bei 4 gelegen, was eindeutig pathologisch sei. Der Beklagte zu 1) hätte dies nach 10 - 20 Minuten erkennen und mit einer umgehenden und dringlichen Krankenhauseinweisung reagieren müssen. Die Dringlichkeit der Lage und die Notwendigkeit der sofortigen Behandlu...