Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Kraftfahrer braucht aufgrund des Vertrauensgrundsatzes bei erwachsenen Fußgängern nicht mit einem verkehrswidrigen Verhalten zu rechnen. Er kann in der Regel annehmen, der Fußgänger, der beim Herannahen des Fahrzeuges neben der Fahrbahn stehen bleibt, habe das Fahrzeug bemerkt und werde es vorbeilassen.

2. Dieser Vertrauensgrundsatz gilt jedoch nicht, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich der Fußgänger nicht zuverlässig verkehrsgerecht verhält. In diesem Fall muss der Kraftfahrer seine Geschwindigkeit im Hinblick auf § 3 Abs. 1 StVO deutlich herabsetzen und darf auf einer Bundesstraße nicht mit 80 km/h am Fußgänger vorbeifahren.

3. Derartige Anhaltspunkte sind gegeben, wenn ein Fußgänger außerorts auf der Bundesstraße auf der Mitte der linken Fahrbahn stehen bleibt, obwohl er mehr als ausreichend Zeit hatte, über die Straße zu gehen.

 

Normenkette

StVO § 3

 

Verfahrensgang

LG Stralsund (Urteil vom 06.04.2004; Aktenzeichen 7 O 427/03)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 6.4.2004 verkündete Urteil des LG Stralsund, Az.: 7 O 427/03, abgeändert:

Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an die Klägerin 48.357,13 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz der EZB p.a. seit 29.11.2003 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin 50 % der Kosten zu erstatten, die die Klägerin noch für medizinische Behandlung ihrer Versicherten, der Frau G., geb. am ...., im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 26.10.2001 zu erbringen hat.

2. Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis 80.000 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin, eine Krankenkasse, begehrt von den Beklagten die Zahlung von Behandlungskosten ihrer Versicherten aus übergegangenem Recht. Die Versicherte wurde bei einem Verkehrsunfall am 26.10.2001 schwer verletzt. Die 71-jährige spätere Geschädigte beabsichtigte, außerorts eine Landstraße zu überqueren. Sie blieb mitten auf der - von der Beklagte zu 1) gesehen - linken Fahrbahn stehen, obwohl es ihr ohne weiteres möglich gewesen wäre, die Straße vor dem Erreichen des von der Beklagte zu 1) gesteuerten Pkw zu überqueren. Die Beklagte zu 1) fuhr mit nahezu unverminderter Geschwindigkeit (ca. 80 km/h bei erlaubten 100 km/h) auf die spätere Unfallstelle zu. Bevor die Beklagte zu 1) die spätere Geschädigte passierte, ging diese los und wurde von der Beklagten zu 1) überfahren. Bei einer Geschwindigkeit von unter 50 km/h hätte die Beklagte zu 1) noch rechtzeitig anhalten können.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall aus übergegangenem Recht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil vom 6.4.2004 Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO).

Das LG hat die Klage nach Durchführung einer Beweisaufnahme abgewiesen. Es hat gemeint, die Geschädigte treffe ein überwiegendes Eigenverschulden. Sie habe gegen § 25 Abs. 3 S. 1 StVO verstoßen, während ein Verschulden der Beklagten zu 1) nicht feststellbar sei. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils verwiesen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, das LG habe das Eigenverschulden des Versicherten der Klägerin zu hoch bewertet. Sie meint, die Beklagte zu 1) habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Geschädigte auch stehen bleiben würde, bis sie der Pkw passiert habe. Der Beklagten zu 1) habe klar sein müssen, dass auf Seiten der Geschädigten ein für einen Fußgänger völlig untypisches Verhalten vorlag, da diese, obwohl es ihr unstreitig ohne weiteres möglich gewesen wäre, die Straße vor dem Erreichen des Pkw zu überqueren, auf der linken Fahrbahn verharrt sei.

Dieses habe die Beklagte zu 1) auch erkannt, wie ihrer Aussage zu entnehmen sei, und sie hätte daher nicht mit unverminderter Geschwindigkeit auf die spätere Unfallstelle weiter zufahren dürfen. Rechtsfehlerhaft habe das LG auch eine schuldhafte Verletzung der Bestimmung des § 3 Abs. 2a StVO durch die Beklagte zu 1) verneint. Unter den konkreten Verkehrsverhältnissen hätte die Beklagte zu 1) die Geschädigte bei notwendiger Aufmerksamkeit als älteren Menschen jedenfalls erkennen können und müssen, zumal sich die geschädigte Frau G. völlig untypisch verhalten habe. Zumindest jedoch sei der Beklagten zu 1) die Betriebsgefahr ihres Pkw anzulasten.

Die Klägerin beantragt,

1. das angefochtene Urteil des LG Stralsund vom 6.4.2004 zum Geschäftszeichen 7 O 427/03 abzuändern;

2. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin 48.357,13 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz der EZB p.a. seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagt...

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