Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung. Rechtsmittel. Berufung. Revision. Revisionsgericht. Zuständigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Ist ein Rechtsmittel nicht als Revision, sondern als Berufung auszulegen, so ist, wenn das Amtsgericht das Rechtsmittel gleichwohl als Revision gemäß § 346 Abs. 1 StPO wegen verspäteteter Einlegung als unzulässig verworfen hat, der Antrag gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO zwar der statthafte Rechtsbehelf, dem Revisionsgericht ist aber mangels Zuständigkeit eine Entscheidung in der Sache verwehrt. Dies gilt wegen des Grundsatzes des gesetzlichen Richters auch dann, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen beider möglicher Rechtsmittel - hier gemäß §§ 341 Abs.1, 341 Abs. 1 StPO in Bezug auf die Einlegungsfrist - identisch sind.

 

Normenkette

StPO §§ 300, 314, 341, 346 Abs. 2; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

AG Heilbronn (Entscheidung vom 30.05.2017; Aktenzeichen 51 Js 35485/16)

 

Tenor

Auf den Antrag der Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Heilbronn vom 30. Mai 2017

aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Heilbronn

zurückgegeben.

Das Rechtsmittel der Angeklagten ist

als Berufung

zu behandeln.

 

Gründe

I.

Die Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Heilbronn vom 3. Mai 2017 wegen zweier Vergehen des Leistungsbetrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Die Entscheidung, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung auszusetzen, hat das Amtsgericht in erster Linie mit den einschlägigen Vorstrafen der Angeklagten sowie dem Umstand begründet, dass diese zur Tatzeit unter Bewährung stand. Des Weiteren hat das Amtsgericht darauf abgestellt, dass sich die Angeklagte mit der ihr in anderer Sache auferlegten Arbeitsstunden in Verzug befinde, ihre finanzielle Situation desolat sei und sie keine Unrechtseinsicht zeige.

Mit handschriftlichem Schreiben vom 9. Mai 2017, das mit dem gerichtlichen Eingangsstempel vom 11. Mai 2017 versehen wurde, stellte die Angeklagte "Antrag auf Revision zum Urteilsspruch aus der Verhandlung vom 03.05.2017" und führte einleitend wie folgt aus:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit möchte ich Revision gegen das ausgesprochene Urteil einlegen und höflichst darum bitten den Freiheitsentzug in Bewährung umzuändern".

Im Folgenden schilderte die Angeklagte in dem Schreiben unter anderem ihre Absicht, eine günstigere Wohnung anzumieten, zur Schuldnerberatung zu gehen und eine Arbeitsstelle zu suchen. Außerdem gab sie an, dass derzeit die Rückführung ihres Sohnes aus einer Jugendhilfeeinrichtung vorbereitet werde und dies durch einen Freiheitsentzug gefährdet wäre. Sie bitte daher um eine "allerletzte Chance".

Das Amtsgericht hat dieses Schreiben als Revision angesehen und mit dem angefochtenen Beschluss gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, da die Revision nicht innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt worden sei. Der Beschluss einschließlich der Rechtsbehelfsbelehrung wurde der Angeklagten am 1. Juni 2017 zugestellt.

Dagegen hat die Angeklagte mit handschriftlich verfasstem Schreiben vom 6. Juni 2017, das am 7. Juni 2017 beim Amtsgericht einging, "Widerspruch gegen Verwerfung der Revision" eingelegt. Darin bestreitet sie die Versäumung der Frist. Sie habe sich vielmehr am 10. Mai 2017 von einer Freundin mit dem Auto zum Amtsgericht fahren lassen und den Brief dort um 23.50 Uhr in den Briefkasten eingeworfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 10. August 2017 und erneut am 6. November 2017 beantragt, den Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts als unbegründet zu verwerfen.

II.

1. Der "Widerspruch" der Angeklagten ist gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO auszulegen, da dies der alleinige statthafte Rechtsbehelf gegen den angefochtenen Beschluss des Amtsgerichts ist. Eine Deutung (auch) als Wiedereinsetzungsgesuch kommt dagegen nicht in Betracht, da Wiedereinsetzungsgründe weder vorgebracht noch sonst ersichtlich sind.

2. Der Antrag ist auch zulässig und hat den aus dem Tenor ersichtlichen (vorläufigen) Erfolg.

a) Das mit einem Antrag nach § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO befasste Revisionsgericht ist bei seiner Prüfung nicht auf die in § 346 Abs. 1 StPO bezeichneten Fälle beschränkt, sondern es prüft die Zulässigkeit der Revision in umfassender Weise (st. Rspr., vgl. nur BGHSt 11, 152, 155; 16, 115, 118). Diese Prüfung umfasst auch die - vorgelagerte - Frage, ob das Rechtsmittel überhaupt als (Sprung-)Revision oder als Berufung anzusehen ist (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2017 - 2 OLG 6 Ss 99/17 -, [...]; KG, Beschluss vom 25. Juli 2012 - (4) 161 Ss 149/12 (184/12) -, [...]; OLG Nürnberg, Beschluss vom 27. April 2010 - 1 St OLG Ss 39/10 -, [...]; OLG Hamm NJW 2003, 1469; NJW 1969, 1821; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Auflage, § 346 Rn. 10; LR-Franke, 26. Auflage, § 346 Rn. 30; Wiedner, in: Graf, StPO, 2. Auflage, § 346 Rn. 27; KK-Gericke, 7. Auflage, § 346 Rn. 21; SK-Frisch...

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