Entscheidungsstichwort (Thema)
Untersuchungshaft. Beschränkungsbeschluss. Verdunklungsgefahr. Fluchtgefahr. Haftzweck. Entscheidungen des unzuständigen Kollegialgerichts
Leitsatz (amtlich)
1. Funktionell zuständig für die Anordnung und Aufhebung einzelner Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO ist allein der Vorsitzende, nicht das Gericht.
2. Die Entscheidung des unzuständigen Kollegialgerichtes führt im Fall der Einlegung einer Beschwerde zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses bei gleichzeitiger eigener Sachentscheidung des Beschwerdegerichts gemäß § 309 Abs. 2 StPO.
3. Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders als durch die in Rede stehenden Beschränkungen abgewehrt werden kann.
4. Maßgebend für die Frage, ob der Haftzweck die Beschränkungen im Verkehr mit der Außenwelt erfordert, sind die im jeweiligen Einzelfall vorliegenden Haftgründe, wobei nicht nur derjenige Haftgrund zu berücksichtigen ist, auf den der Haftbefehl gestützt ist, sondern auch weitere, im Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe herangezogen werden können.
5. Da eine Flucht aus der Untersuchungshaft anderer Planungen und Anstrengungen bedarf als das Untertauchen eines Beschuldigten, der sich auf freiem Fuß befindet, wird der Gefahr der Flucht eines Angeklagten ohne konkrete Anhaltspunkte für Fluchtplanungen allein durch dessen Inhaftierung hinreichend begegnet.
Normenkette
StPO §§ 119, 126, 309
Verfahrensgang
AG Heilbronn (Entscheidung vom 19.02.2021; Aktenzeichen 31 Gs 538/21) |
LG Heilbronn (Entscheidung vom 18.10.2021; Aktenzeichen 3 KLs 65 Js 33960/20) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Beschluss des Landgerichts Heilbronn - 3. Große Strafkammer - vom 18. Oktober 2021 sowie der Beschluss des Amtsgerichts Heilbronn vom 19. Februar 2021 (Az. 31 Gs 538/21)
aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 19. Februar 2021 aufgrund des an diesem Tag erlassenen und eröffneten Haftbefehls des Amtsgerichts Heilbronn ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom selben Tag (Az. 31 Gs 538/21) ordnete das Amtsgericht Heilbronn gemäß § 119 Abs. 1 StPO anlässlich des Vollzugs der Untersuchungshaft folgende Beschränkungen hinsichtlich des Angeklagten an:
1. Der Empfang von Besuch bedarf der Erlaubnis.
Die Besuche sind optisch und akustisch zu überwachen.
2. Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis.
Die Telekommunikation ist zu überwachen.
3. Der Schrift- und Paktverkehr ist zu überwachen.
Nach Anklageerhebung zum Landgericht Heilbronn am 20. Mai 2021 erließ die 3. Große Strafkammer am 22. Juli 2021 einen neuen Haftbefehl im Umfang der angeklagten Taten und setzte diesen am 29. Juli 2021 nach Eröffnung und Aufhebung des Haftbefehls vom 19. Februar 2021 in Vollzug, wobei der Beschränkungsbeschluss von 19. Februar 2021 aufrechterhalten wurde. Am 29. Juli 2021 eröffnete die Kammer das Hauptverfahren. Mit Urteil vom 27. September 2021 wurde der Angeklagte sodann wegen Beihilfe zum bandenmäßig begangenen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wegen bandenmäßig begangener unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum bandenmäßig begangenen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen vorsätzlichen unerlaubten Führens einer verbotenen Waffe zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Angeklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.
Mit Beschluss vom 18. Oktober 2021 lehnte die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Heilbronn einen Antrag des Angeklagten vom 1. Oktober 2021 auf Aufhebung der gemäß § 119 Abs. 1 StPO im Beschränkungsbeschlusses des Amtsgerichts Heilbronn vom 19. Februar 2021 angeordneten Maßnahmen ab.
Hiergegen legte der Angeklagte mit Schreiben seines Verteidigers vom 22. Dezember 2021 Beschwerde ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Aufrechterhaltung der Beschränkungen nicht mehr verhältnismäßig sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 22. Dezember 2021 Bezug genommen. Die Strafkammer half der Beschwerde mit Beschluss vom 5. Januar 2022 nicht ab und legte die Akten über die Staatsanwaltschaft Heilbronn dem Oberlandesgericht Stuttgart zur Entscheidung vor. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde zu verwerfen.
II.
Die nach § 119 Abs. 5 i.V.m. § 304 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässig erhobene Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse.
1.
Die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Heilbronn als Kollegialgericht war für den Erlass de...