Leitsatz (amtlich)

›Das Übermaßverbot schließt die Verhängung von Freiheitsstrafe bei geringfügigen Straftaten oder Bagatelldelikten nicht generell aus. Erfordern diese Delkite den Ausspruch einer Freiheitsstrafe, so können die Anforderungen an einen gerechtenn Schuldausgleich und die Beachtung des Übermaßverbots jedoch gebieten, auf die Mindeststrafe zu erkennen.‹

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Entscheidung vom 19.09.2005; Aktenzeichen 35 Ns 107 Js 36573/05)

AG Stuttgart (Aktenzeichen 13 Ds 107 Js 36573/05)

 

Gründe

Das Amtsgericht verurteilte die Angeklagte wegen Erschleichens von Leistungen in drei Fällen zu einer - aus drei Einzelstrafen von jeweils zwei Monaten gebildeten - Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten ohne Bewährung. Ihre auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung hat das Landgericht verworfen. Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

Das Landgericht ist zutreffend von einer wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung ausgegangen. Der Schuldspruch des amtsgerichtlichen Urteils ist damit rechtskräftig und die zugehörigen Feststellungen sind bindend. Das Landgericht hatte danach seinen Strafzumessungserwägungen folgenden Sachverhalt zugrunde zu legen:

Die drogenabhängige Angeklagte benutzte in drei Fällen öffentliche Verkehrsmittel der , obwohl sie jeweils bei Fahrtantritt wusste, nicht im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein. Sie wurde am 30.11.2004, am 2.12.2004 und am 25.01.2005 ohne gültigen Fahrschein angetroffen. In allen Fällen handelte sie in der Absicht, das Beförderungsentgelt in Höhe von jeweils 1, 65 Euro nicht zu entrichten.

Die Strafkammer hat für jede der drei Taten eine Freiheitsstrafe von 2 Monaten verhängt und daraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten gebildet.

Bei der Bemessung der Höhe der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe hat sie als strafmildernde Faktoren das Geständnis, schwierige finanzielle Verhältnisse, die mit einer - die Erheblichkeitsschwelle des § 21 StGB nicht erreichenden - Beschränkung der Steuerungsfähigkeit verbundene Drogenabhängigkeit sowie positive Ansätze in der Lebensführung der Angeklagten angeführt und diesen Umständen straferschwerend gegenüber gestellt, dass die Angeklagte bisher 19 mal verurteilt werden musste und in zahlreichen Fällen bewährungsbrüchig war. In den Urteilsgründen führt das Landgericht - nach der Begründung für die Festsetzung der Gesamtstrafe und die Versagung der Bewährung - aus, es sei berücksichtigt worden, dass es sich um "nicht gravierende" Taten gehandelt habe; die Verhältnismäßigkeit sei jedoch angesichts der in den beiden letzten Verurteilungen wegen weitgehend einschlägiger Straftaten verhängten Freiheitsstrafen und des Bewährungsversagens der Angeklagten gewahrt.

II.

Der Rechtsfolgenausspruch hält der durch die Sachrüge veranlassten Überprüfung nicht stand. Die Bemessung der Einzelstrafen begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, sodass auch der Gesamtstrafenausspruch keinen Bestand haben konnte. Zwar ist es grundsätzlich Sache des Tatrichters, auf der Grundlage des Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Täterpersönlichkeit gewonnen hat, die für die Strafzumessung wesentlichen Umstände zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Das Revisionsgericht hat jedoch unter anderem dann einzugreifen, wenn sich die Strafe von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein und nicht mehr innerhalb des dem Tatrichter bei der Strafzumessung eingeräumten Spielraums liegt (st. Rspr., z. B. BGHSt 17, 35, 36 f; 29, 319, 320 m. w. N.). So liegt es hier.

1. Das Landgericht hat allerdings zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB gegeben sind und die Taten mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden müssen.

a) Das verfassungsrechtlich verankerte Übermaßverbot schließt die Verhängung von Freiheitsstrafe bei geringfügigen Straftaten oder Bagatelldelikten nicht generell aus. Erfordern diese Delikte gemäß § 47 Abs. 1 StGB den Ausspruch einer Freiheitsstrafe, so können die Anforderungen an einen gerechten Schuldausgleich und die Beachtung des Übermaßverbots jedoch gebieten, auf die Mindeststrafe zu erkennen.

Die - strengen Anforderungen unterliegende - Anwendung des § 47 StGB ist bei der Ahndung von Bagatellstraftaten nicht ausgeschlossen. Es verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Prinzip schuldangemessenen Strafens, dass das Gesetz - wie etwa in § 265 a Abs. 1 StGB oder § 242 Abs. 1 StGB - die Begehung von Straftaten, die sich auf eine geringwertige Sache oder Leistung (vgl. §§ 265 a Abs. 3, 248 a Abs. 3 StGB) beziehen, wahlweise mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht (vgl. BVerfG NJW 1979, 1039, 1040). Aus dem Gebot schuldangemessenen Strafens ergibt sich auch nicht, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt (BVerfG Beschl. v. 9.6.1994 - 2 BvR 710/94). ...

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