Leitsatz (amtlich)
Im Eröffnungsverfahren kann die belastende Aussage eines Zeugen, der noch weitere Strafanzeigen gegen den Angeschuldigten erstattet hat, nur dann als unglaubhaft bewertet werden, wenn diese Anzeigen abwegig, haltlos oder in ihrem Tatsachenkern widerlegt sind.
Normenkette
StPO § 203; StGB § 177 Abs. 1; StPO § 158 Abs. 1; StGB § 7 Abs. 1; GVG § 24 Abs. 1 Nr. 3; StPO § 8 Abs. 2; StGB § 177 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 22.12.2010; Aktenzeichen 7 KLs 23 Js 6722/08) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Nebenklägerin wird der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 22. Dezember 2010 im Punkt Ziffer 2 (Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens wegen des unter Ziffer 2 der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 09. Februar 2010 erhobenen Vorwurfs)
a u f g e h o b e n.
Der Tatvorwurf Ziffer 2 aus der Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 09. Februar 2010 wird zugelassen. Das Hauptverfahren vor dem Landgericht - große Strafkammer - Stuttgart wird insoweit
e r ö f f n e t.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Angeschuldigte, der auch die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat.
Gründe
I. Die Nebenklägerin wendet sich mit ihrem Rechtsmittel gegen den Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Stuttgart, der auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart hinsichtlich des Vorwurfs der Vergewaltigung zu ihrem Nachteil erging. Der Anklagepunkt Ziffer 1 - es handelt sich um einen prozessual selbständigen Tatvorwurf der Entziehung Minderjähriger gemäß § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB, begangen am 12. Januar 2008 - wurde durch das Landgericht vom vorliegenden Verfahren abgetrennt; über die Eröffnung des Hauptverfahrens in diesem Punkt hat die Strafkammer noch nicht entschieden.
Im Einzelnen wirft die sich auf die Aussage der Nebenklägerin stützende Anklage dem Angeschuldigten vor, in der Nacht vom 10. auf den 11. April 2007 in seinem Elternhaus in ... die Nebenklägerin mittels heftigen Ziehens an ihren Haaren und Schlägen ins Gesicht zunächst zum Oralverkehr gezwungen zu haben. Anschließend habe er der Nebenklägerin weitere Schläge ins Gesicht versetzt, sie durch einen Stoß zu Fall gebracht, ihr den Hals zugedrückt, sie teilweise entkleidet und sie dann zum Geschlechtsverkehr gezwungen, wobei es aufgrund der heftigen Gegenwehr der Nebenklägerin nicht zum Samenerguss kam. Das Landgericht hat die Nichteröffnung des Hauptverfahrens auf seine erheblichen Zweifel am Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin gestützt. Den weiteren Strafanzeigen, die die Nebenklägerin gegen den Angeschuldigten erstattet hat, entnimmt es eine außergewöhnliche, sich steigernde Tendenz der Nebenklägerin, den Angeschuldigten zu belasten.
Das Rechtsmittel ist gemäß § 400 Abs. 2 Satz 1 StPO statthaft und form- und fristgerecht eingelegt worden. Es hat in der Sache Erfolg.
II. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist der Angeschuldigte der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB hinreichend verdächtig.
Ein hinreichender Tatverdacht besteht dann, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens eine spätere Verurteilung des Angeschuldigten mit den vorhandenen zulässigen Beweismitteln wahrscheinlich erscheint (OLG Karlsruhe wistra 2005, 72f.; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 26. Auflage, § 203, Rdnr. 13). Das ist dahin zu präzisieren, dass entweder die Verurteilung überwiegend wahrscheinlich erscheinen muss oder ein Zweifelsfall mit ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung vorliegen muss, zu dessen Klärung die besonderen Erkenntnismittel der Hauptverhandlung notwendig sind. Das ist insbesondere der Fall, wenn es auf den persönlichen Eindruck des erkennenden Gerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit bei sich widersprechenden Aussagen entscheidend ankommt. Denn diffizile Beweiswürdigungsfragen dürfen nicht im Zuge der nicht-öffentlichen und nicht-unmittelbaren vorläufigen Tatbewertung des eröffnenden Gerichts womöglich endgültig entschieden werden. Die Eröffnungsentscheidung soll erkennbar aussichtslose Fälle ausfiltern, aber der Hauptverhandlung ansonsten nicht vorgreifen (Löwe-Rosenberg/Stuckenberg aaO.). Die Unwahrscheinlichkeit späterer Verurteilung kann sich auch aus weiteren Strafanzeigen eines Zeugen gegen den Angeschuldigten ergeben, die auf eine übermäßige Belastungsmotivation und -tendenz hinweisen und die Bewertung der Zeugenaussage als insgesamt unglaubwürdig rechtfertigen. Gestützt werden kann diese Bewertung aber nur auf weitere Anzeigen, die abwegig, haltlos oder in ihrem Tatsachenkern widerlegt sind. Denn aus einer Belastungsmotivation beim Zeugen kann nicht zwingend auf das Vorliegen einer falschen Verdächtigung geschlossen werden (BGHSt 45, 164 ff. - Rdnr. 34 nach juris). Vielmehr gilt, dass es gemäß § 158 Abs. 1 StPO Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden ist, Anzeigen von Straftaten entgegenzunehmen. Ein Zeuge, der diese Zuständigkeit zur Erstattung von im Tatsac...