Leitsatz (amtlich)

1. Die in § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 IfSG in der Fassung vom 27. März 2020 normierte Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen, auf der die tatbestandliche Ausgestaltung der Bußgeldbestimmung in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg beruht, wird den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht gerecht. Sie genügt auch nicht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Senat ist indes an der Vorlage der bundesgesetzlichen Vorschriften in § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 IfSG im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG gehindert, da es an der erforderlichen Entscheidungserheblichkeit fehlt.

2. Die zur Tatzeit (13. April 2020) existierenden Bußgeldvorschriften in § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg (jeweils in der Fassung vom 9. April 2020) sind in ihrer hier vorliegenden Ausgestaltung mit verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar; als Sanktionsvorschriften ohne jede Härtefallregelung erweisen sie sich als unverhältnismäßig und sind damit ungültig.

3. Es kann offenbleiben, inwieweit sich im Vergleich von § 3 Abs. 1, § 9 Nr. 1 zu § 3 Abs. 2, § 9 Nr. 2 CoronaVO Baden-Württemberg (in der bezeichneten Fassung) im Hinblick auf den angestrebten Zweck des Infektionsschutzes nicht unerhebliche Inkonsistenzen ergeben und hierdurch verfassungsrechtliche Maßstäbe berührt oder gar verfehlt werden.

4. Unabhängig davon, dass eine Divergenzvorlage schon mangels Entscheidungserheblichkeit nicht in Betracht kommt, ist der Senat an einer Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG der landesrechtlichen Verordnungsvorschriften mit Blick auf die Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte außerhalb Baden-Württembergs gehindert. In Bezug auf die Entscheidungen des OLG Karlsruhe (Beschlüsse vom 30. März 2021 - 2 Rb 34 Ss 1/21 und 2 Rb 34 Ss 2/21 -, juris) fehlt es vorliegend an der von § 121 Abs. 2 GVG vorausgesetzten (Entscheidungs-) Erheblichkeit und in Bezug auf die Entscheidung des OLG Stuttgart (Beschluss vom 21. April 2021 - 4 Rb 24 Ss 7/21) liegt eine Innendivergenz vor, aufgrund derer eine Vorlage ebenfalls ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

IfSG § 28 Abs. 1 Fassung: 2020-03-27, § 32 S. 1 Fassung: 2020-03-27; GG Art. 100, 103 Abs. 2, Art. 80 Abs. 1 S. 2; CoronaVO BW § 9 Nr. 1 Fassung: 2020-04-09, § 3 Abs. 1 Fassung: 2020-04-09; GVG § 121 Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Stuttgart (Entscheidung vom 05.10.2020; Aktenzeichen 12 OWi 170 Js 71045/20)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 5. Oktober 2020 mit den Feststellungen

aufgehoben.

Der Betroffene wird

freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Stuttgart hat den Betroffenen am 5. Oktober 2020 wegen "eines Verstoßes gegen ein Aufenthaltsverbot, das zum Zeitpunkt 13. April 2020 wegen der Corona-Pandemie den Aufenthalt mit mehr als 2 Personen, die nicht dem eigenen Hausstand angehören, verbot", zu einer Geldbuße von 200 € verurteilt. Die hiergegen beantragte Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der Senat durch Beschluss vom 18. März 2021 zugelassen, um die gebotene Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Das auf die Sachbeschwerde gestützte Rechtsmittel hat umfassenden Erfolg.

I.

Das Amtsgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Betroffene hielt sich am 13. April 2020 gegen 17 Uhr am Max-Eyth-See in Stuttgart in einer "5-er Gruppe" auf. Er war hierbei in Begleitung seiner Lebensgefährtin A. sowie der Eheleute Y. und deren Kind im Alter von vier Jahren. Die Gruppe ging "mehrere hundert Meter" spazieren. Die Gruppenmitglieder hielten "dabei den Abstand von 1 Meter untereinander" nicht ein. A. ist die Mutter der Y.. Die fünf Personen gehörten drei verschiedenen Haushalten an.

2. Das Amtsgericht hat dem Betroffenen einen fahrlässigen Verstoß "gegen das Infektionsschutzgesetz in Verbindung mit der Corona-Verordnung" angelastet und eine Geldbuße von 200 € festgesetzt. Es hat die Verurteilung auf folgende - zum Tatzeitpunkt geltende und hier verfahrensentscheidende - Rechtsvorschriften gestützt: § 73 Abs. 1a Nr. 24, § 28 Abs. 1 IfSG (jeweils in der Fassung vom 27. März 2020), § 32 Satz 1 IfSG (in der Fassung vom 20. Juli 2000), § 9 Nr. 1, § 3 Abs. 1 CoronaVO Baden-Württemberg (jeweils in der Fassung vom 9. April 2020).

II.

Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des Urteils und der ihm zugrundeliegenden Feststellungen (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 349 Abs. 4, § 353 Abs. 2 StPO) sowie zur Freisprechung des Betroffenen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

Die Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Urteil leidet an mehreren durchgreifenden - voneinander unabhängigen - Rechtsfehlern. Hierzu im Überblick:

Die in § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 IfSG normierte Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen, auf der die tatbestandliche ...

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