Leitsatz (amtlich)
1. Werden einem Angeklagten aufgrund des Verfahrensumfangs zwei Pflichtverteidiger beigeordnet, sind beide - mit Ausnahme vereinzelter, näher zu begründender Verhinderungen - zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung verpflichtet.
2. Nimmt ein Pflichtverteidiger trotz mehrfachen Hinweisen des Gerichts auf eine drohende Entpflichtung an einem erheblichen Teil der Hauptverhandlung nicht teil, kann seine Bestellung zurückgenommen werden, da zu befürchten ist, dass der Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verhandlungsablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet ist.
Normenkette
StPO § 143
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 23.11.2015; Aktenzeichen 6 KLs 163 Js 28886/13) |
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Verfügung des Vorsitzenden der 6. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 23. November 2015, durch die die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. E. als Pflichtverteidiger des Angeklagten H. P. mit sofortiger Wirkung zurückgenommen wurde, wird als unbegründet
verworfen.
Die Beschwerde des Verteidigers Rechtsanwalt Dr. E. gegen die genannte Entscheidung wird als unzulässig
verworfen.
- Die Beschwerdeführer tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.
Gründe
I.
Der Angeklagte H. P. befindet sich in dieser Sache seit dem 15. August 2012 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Zeitgleich mit der Inhaftierung wurde ihm Rechtsanwalt Dr. E. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
In der am 8. April 2013 zum Landgericht - Wirtschaftsstrafkammer - Stuttgart erhobenen Anklage legt die Staatsanwaltschaft H. P. und dem Mitangeklagten L. B. 1231 Vergehen des gemeinschaftlichen Betruges im besonders schweren Fall zum Nachteil von insgesamt 568 Geschädigten zur Last. Der verursachte Gesamtschaden soll circa 20 Millionen Euro betragen. Die 185-seitige Anklageschrift benennt insgesamt 645 Zeugen und Sachverständige. Aufgrund des Verfahrensumfangs mit 327 Stehordnern Ermittlungsakten und 118 Kartons Beweismitteln sowie elektronischen Dateien im Umfang von circa sechs Terabyte erfolgte am 11. Juni 2013 die Bestellung von Rechtsanwältin J. N. als weitere Pflichtverteidigerin des Angeklagten P. Auch dem Mitangeklagten wurde ein zweiter Pflichtverteidiger beigeordnet. Die zunächst am 26. Juli 2013 begonnene Hauptverhandlung musste aufgrund Schwangerschaft einer Richterin der Strafkammer am 4. Februar 2014 ausgesetzt werden. In der nunmehr seit dem 25. März 2014 andauernden neuen Hauptverhandlung haben bis zum 19. November 2015 insgesamt 113 Sitzungstage stattgefunden. Weitere Hauptverhandlungstermine sind bereits bis zum 30. Juni 2016 bestimmt.
Mit Verfügung vom 13. Februar 2015 bestellte der Vorsitzende der Strafkammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft dem Angeklagten H. P. Rechtsanwalt T. V. als zusätzlichen Pflichtverteidiger. Dem Mitangeklagten wurde ebenfalls ein dritter Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies wurde mit der unzureichenden Teilnahme der ursprünglichen Verteidiger an der Hauptverhandlung begründet.
Die Beschwerden der beiden Angeklagten gegen die Entscheidungen des Vorsitzenden wurden mit Senatsbeschluss vom 26. März 2015 als unbegründet verworfen. Am 27. April 2015 teilte Rechtsanwalt V. mit, seine Einarbeitung in den Verfahrensstoff sei abgeschlossen. Bereits am 23. April 2015 hatte dies auch der neue Pflichtverteidiger des Mitangeklagten erklärt. Daraufhin nahm der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. als Pflichtverteidiger des Angeklagten H. P. sowie von Rechtsanwalt O. W. als Pflichtverteidiger des Mitangeklagten L. B. durch Verfügung vom 27. April 2015 mit sofortiger Wirkung zurück. Auf die Beschwerden der beiden Angeklagten wurde diese Entscheidung mit Senatsbeschluss vom 21. Mai 2015 aufgehoben, da keine ausreichende Abmahnung des Fehlverhaltens der Pflichtverteidiger erfolgt war. Durch Verfügung des Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer vom 23. November 2015 wurde die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. als Pflichtverteidiger erneut mit sofortiger Wirkung zurückgenommen. Hiergegen wenden sich sowohl der Angeklagte H. P. als auch Rechtsanwalt Dr. U. E. mit der Beschwerde.
II.
Das zulässige Rechtsmittel des Angeklagten H. P. ist unbegründet, da die Rücknahme der Bestellung des Pflichtverteidigers rechtsfehlerfrei erfolgt ist.
1) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Rücknahme der Bestellung eines Pflichtverteidigers - neben der in § 143 StPO genannten Fallgestaltung - aus wichtigem Grund auch dann zulässig ist, wenn eine grobe Pflichtverletzung des Verteidigers vorliegt, die befürchten lässt, dass der Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet ist. Dabei ist die Entpflichtung eines Verteidigers, der das Vertrauen des Angeklagten genießt, auf eng umgrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Sie berührt durch die zugrundeliegende wertende Betrachtung der...