Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 01.07.2022; Aktenzeichen 9 KLs 26 Js 66149/19 (2)) |
Tenor
Der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts - 9. Große Strafkammer - Stuttgart vom 1. Juli 2022 wird
aufgehoben.
Der Angeklagte ist vorbehaltlich notierter Überhaft unverzüglich
freizulassen.
- Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Gegen den Angeklagten wird ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung geführt. Ihm wird zur Last gelegt, er habe am 16. Juni 2019 die damals 18-jährige Nebenklägerin in einem Hotel in Stuttgart zum Oralverkehr sowie zum vaginalen Geschlechtsverkehr gezwungen. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 22. Oktober 2019 Bezug genommen.
Der Angeklagte befand sich aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart vom 3. Juli 2019 in der Zeit vom 5. Juli 2019 bis zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls am 2. September 2019 in Untersuchungshaft.
Im ersten Rechtsgang hat das Landgericht Stuttgart den Angeklagten mit Urteil vom 9. Dezember 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt.
Auf die Revision des Angeklagten hat der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts Stuttgart mit Beschluss vom 18. Mai 2021 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Stuttgart zurückverwiesen.
Mit Beschluss vom 29. Oktober 2021 hat die nunmehr zuständige 9. Große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart den Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 3. Juli 2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben.
In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches am 9. Mai 2022 bei Gericht einging.
Am 2. Juni 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Stuttgart, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 7. März 2022 nicht auffindbar.
Das Landgericht Stuttgart hat sodann am 9. Juni 2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen.
Mit Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13. Juni 2022 ausgeführt.
Nur zwei Tage später, am 15. Juni 2022, hat der Verteidiger der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt.
Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt.
Am 23. Juni 2022 nahmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem Amtsgericht Villingen vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrechterhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 1. Juli 2022 dem Landgericht Stuttgart vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für die Anordnung bzw. die Fortdauer der Untersuchungshaft liegen nicht vor.
1. Zwar rechtfertigt das vorläufige Gutachten der aussagepsychologischen Sachverständigen derzeit noch die Annahme eines dringenden Tatverdachts, wenngleich sich das Gutachten nicht mit allen in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs angesprochenen Punkten auseinandersetzt. So wird im Hinblick auf die Facebook-Nachrichten des Angeklagten an die Nebenklägerin nach der Tat lediglich ausgeführt, dass diese nicht zwingend deren tatsächliche Befindlichkeit darstellten, sodass hierzu im Hinblick auf sie aussagepsychologisch keine Aussage getroffen werden könne. Auch wird die Strafkammer in ihre Erwägungen einbeziehen müssen, dass der Angeklagte der Nebenklägerin über Facebook sogar seine Mobi...