Leitsatz (amtlich)

1. Ist eine spanische Sorgerechtsentscheidung wegen Verstoßes gegen Art. 23 lit. b VO (EG) Nr. 2201/2003 nicht anzuerkennen, kann derjenige Elternteil, dem die Personensorge und Obhut nach spanischem Recht übertragen worden ist, durch Verbringen des gemeinsamen Kindes von Deutschland nach Spanien nicht einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Spanien begründen. International zuständig ist das nach dem Verbringen angerufene deutsche Gericht.

2. Ein fünfeinhalb Jahre altes Kind ist von spanischen Gerichten zwingend anzuhören. Unterbleibt die Anhörung, kann die Entscheidung nicht anerkannt werden.

3. Begründet das Kind im Laufe des gerichtlichen Verfahrens einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat, bleibt das angerufene Gericht international zuständig (perpetuatio fori). Das anzuwendende materielle Recht richtet sich allerdings nach dem Recht des neuen gewöhnlichen Aufenthalts (kein Gleichlauf zwischen forum und ius).

4. Bei einem widerrechtlichen Verbringen des Kindes wird allerdings ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt nicht vor Ablauf von einem Jahr begründet.

 

Normenkette

KSÜ Art. 15; EGV 2201/2003 Art. 8, 10, 19, 21 Abs. 4, Art. 23 lit. b

 

Verfahrensgang

AG Waiblingen (Beschluss vom 11.12.2019; Aktenzeichen 16 F 1072/19)

 

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht Waiblingen wird zurückgewiesen.

2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Beschwerdewert: 2.500 EUR

 

Gründe

I. Im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens streiten die beteiligten Elternteile um das Aufenthaltsbestimmungsrecht ihres Sohnes B. Ein Hauptsacheverfahren ist beim Amtsgericht W. seit Anfang September 2019 anhängig.

Aus der nichtehelichen Beziehung der Antragstellerin (zukünftig Kindesmutter) und des Antragsgegners (zukünftig Kindesvater), beide spanische Staatsangehörige, ist das 2013 geborene Kind B., das gleichfalls die spanische Staatsangehörigkeit besitzt, hervorgegangen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Februar 2016 hat der Kindesvater die Kindesmutter körperlich misshandelt, wobei es zu einer kurzfristigen Ingewahrsamnahme des Kindesvaters gekommen ist. Nach dem Vortrag der Kindesmutter leben die Eltern seit Februar 2016, nach dem Vorbringen des Kindesvaters seit Oktober 2017 endgültig getrennt. Im Oktober 2017 stellten beide Elternteile Sorgerechtsanträge vor dem erstinstanzlichen Gericht in Spanien. Im November 2017 zog die Kindesmutter mit B. nach Deutschland, wobei die Kindesmutter eine Zustimmung des Kindesvaters behauptete. In Abänderung der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts vom 27.03.2018 wurde dem Kindesvater mit Urteil des spanischen Provinzgerichts vom 24.01.2019 die Personensorge und Obhut für das Kind übertragen, sofern die Kindesmutter nicht binnen zwei Monaten nach Zustellung dieser Entscheidung nach Spanien zurückkehrt. Die Kindesmutter habe B. ohne Einwilligung des Kindesvaters nach Deutschland verbracht. Eine Kindesanhörung fand nicht statt. Diese Entscheidung wurde vom Tribunal Supremo (Oberstes Gericht) in Madrid am 09.10.2019 bestätigt. Der Kindesvater nahm B. anlässlich eines in Deutschland ausgeübten Umgangsrechts zwischen dem 29. und 31. Oktober 2019 nach Spanien mit. Am 03.11.2019 teilte der Kindesvater der Kindesmutter mit, das Kind werde fortan mit ihm in Spanien leben. Bereits am 31.10.2019 hatte der spanische Verfahrensbevollmächtigte dem spanischen Untersuchungsgericht, bei dem der Kindesvater im Frühjahr 2019 eine Anzeige wegen Kindesentziehung eingereicht hatte, mitgeteilt, dass der Kindesvater seinen Sohn in Deutschland abgeholt habe.

Die Kindesmutter begehrt im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge, nachdem der Kindesvater B. ohne deren Einverständnis nach Spanien verbracht habe.

Mit angefochtenem Beschluss vom 11.12.2019 hat das Amtsgericht W. der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für B. unter Zurückweisung im Übrigen übertragen. Das angerufene Gericht sei international zuständig. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht sei infolge fehlender Anerkennungsfähigkeit der spanischen Entscheidung wegen Nichtanhörung des Kindes als Erstentscheidung auf die Kindesmutter zu übertragen. Die Kindesmutter sei sowohl während des Aufenthalts in Deutschland als auch in Spanien die Hauptbezugsperson für B. gewesen. Die Kindesmutter habe das Kind schon seit Februar 2016 durchgehend betreut.

Mit seiner am 31.12.2019 eingelegten Beschwerde gegen den ihm am 17.12.2019 zugestellten Beschluss erstrebt der Kindesvater die Aufhebung der amtsgerichtlichen Entscheidung. Deutsche Gerichte seien international unzuständig. Spanische Gerichte seien über Art. 10 VO (EG) Nr. 2201/2003 zuständig geblieben. Der Kindesvater, der Umgang mit B. in Deutschland im Großraum S. gehabt habe, habe die genaue Wohnanschrift der Kindesmutter nie mitgeteilt bekommen. Erst am 20.08.2019 sei er von der zutreffenden Anschrift in Kenntnis gesetzt worden. W...

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