Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein Kind in einem HKÜ-Vertragsstaat widerrechtlich zurückgehalten und wird es nach Durchführung eines HKÜ-Rückführungsverfahrens in diesem Staat durch den Entführer in einen anderen HKÜ-Vertragsstaat gebracht, so liegt weder ein erneutes "widerrechtliches Zurückhalten" noch ein erstmaliges "Verbringen" i.S.d. Art. 3 HKÜ vor. Für die Berechnung der Jahresfrist gemäß Art. 12 Abs. 1 HKÜ ist bei Durchführung eines neuen HKÜ-Rückführungsverfahrens in dem zweiten Vertragsstaat auf den Zeitpunkt des erstmaligen widerrechtlichen Zurückhaltens abzustellen.

2. Auch wenn ein HKÜ-Rückführungsantrag nach Ablauf der Jahresfrist gemäß Art. 12 Abs. 1 HKÜ eingegangen ist und sich das Kind bereits in seiner neuen Umgebung "eingelebt" hat (Art. 12 Abs. 2 HKÜ), hat das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ein Ermessen, auch in diesem Fall eine Rückführung in den Ursprungsstaat anzuordnen.

 

Normenkette

HKÜ §§ 3, 12

 

Verfahrensgang

AG Stuttgart (Beschluss vom 04.10.2023; Aktenzeichen 20 F 1371/23)

 

Tenor

1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Stuttgart vom 04.10.2023, Az. 20 F 1371/23, wird zurückgewiesen.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

4. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin Y..., ratenfrei Verfahrenskostenhilfe bewilligt.

 

Gründe

I. 1. a) Der Antragsteller begehrt die Rückführung des gemeinsamen Kindes A... M..., geboren am 19.01.2015, nach Ungarn.

Der Antragsteller und die Antragsgegnerin waren verheiratet und sind seit 2020 geschieden. Aus ihrer Ehe ging das Kind A... hervor. Aus dem Scheidungsurteil des Amtsgerichts Kiskunhalas vom 17.11.2020 geht hervor, dass beide Eltern vereinbart haben, dass sie in Bezug auf das Kind A... die elterliche Sorge auch weiter gemeinsam ausüben. Für einen Wegzug des Kindes ins Ausland ist für diesen Fall nach ungarischem Recht eine Genehmigung beider Elternteile erforderlich (§§ 4:152, 4:175 des Gesetzes Nr. V. vom Jahre 2013 über das Bürgerliche Gesetzbuch in Ungarn). Der Antragsteller hat hierzu ein Schreiben des ungarischen Justizministeriums vom 12.06.2023 vorgelegt, in dem die maßgebenden Regelungen aufgeführt sind.

Die Beteiligten lebten bis 01.07.2021 in Ungarn. Dann ging die Mutter mit dem Kind zunächst zu ihren in Rumänien lebenden Eltern, angeblich für einen einmonatigen Urlaubsaufenthalt. Im Nachhinein hatte der Antragsteller erfahren, dass die Antragsgegnerin nicht vorhatte, mit dem Kind nach Ungarn zurückzukehren. So hatte sie ihre Arbeitsstelle in Ungarn gekündigt und ist stattdessen für zwei Monate nach Deutschland gereist, das Kind verblieb in diesem Zeitraum zunächst in Rumänien. Nachfolgend verzog die Mutter mit dem Kind für ein paar Monate nach Deutschland, dann im November 2021 für ein paar Monate nach Serbien, im Januar 2022 wieder nach Rumänien.

Am 07.06.2022 hat der Antragsteller in Rumänien ein gerichtliches Rückführungsverfahren nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (im Folgenden: HKÜ) eingeleitet. Das Landgericht Bukarest ordnete mit Urteil vom 13.07.2022 (Zivilurteil Nr. 1155) die Rückführung des Kindes A... nach Ungarn an. Die Berufung der Antragsgegnerin wurde durch Urteil des Berufungsgerichts in Bukarest vom 06.10.2022 (Zivilurteil Nr. 69) für nichtig und ungültig erklärt. Ein in Rumänien durch den Antragsteller eingeleitetes Vollstreckungsverfahren verlief erfolglos, nachdem die Antragsgegnerin mit dem Kind A... im Oktober 2022 ohne Kenntnis und Zustimmung des Antragsgegners nach Deutschland gegangen war, wo das Kind zusammen mit der Antragsgegnerin, deren neuem Ehemann, einer 2-jährigen Halbschwester und zwei älteren Halbbrüdern im Alter von 12 und 15 Jahren nach wie vor lebt. Von dem Umzug nach Deutschland erhielt der Antragsteller im Februar 2023 Kenntnis.

Der Antragsteller hat mit am 28.08.2023 beim Amtsgericht Stuttgart eingegangenem Antrag das vorliegende Verfahren eingeleitet.

Der Antragsteller trägt vor, dass durch die Entführung des Kindes seine elterliche Mitsorge verletzt worden sei. Er sei weder mit dem Aufenthalt in Rumänien noch mit einem Verbleib des Kindes in Deutschland einverstanden gewesen. A... habe ihm auch per Sprachnachricht mitgeteilt, dass sie zu ihm nach Ungarn zurückwolle.

Er hat beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Kind A... M..., geboren am 19.01.2015, derzeitige Anschrift ..., innerhalb einer angemessenen Frist nach Ungarn zurückzuführen,

sofern die Antragsgegnerin der Verpflichtung nicht nachkommt, die Herausgabe des Kindes an den Antragsteller zum Zwecke der sofortigen Rückführung nach Ungarn anzuordnen.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie trägt vor, dass der Antragsgegner sich in Ungarn nicht ausreichend um A... bemüht und kein Interesse an dem Kind gehabt habe....

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