Leitsatz (amtlich)

›Im Strafverfahren gegen einen Jugendlichen ist § 406 g StPO nicht anwendbar, weil die dort geregelten Befugnisse in einem engen Zusammenhang mit der nach §§ 2, 80 Abs. 3 JGG im Jugendstrafverfahren unzulässigen Nebenklage stehen (entgegen OLG Koblenz, Beschluß vom 2. Mai 2000, NJW 2000, S 2436).‹

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Aktenzeichen 3 KLs 43 Js 38351/00)

 

Gründe

Der zu den Tatzeiten 16 Jahre alte Angeklagte ist am 18. Dezember 2000 - nicht rechtskräftig - wegen versuchten Mordes, sexueller Nötigung, gefährlicher Körperverletzung und anderem zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Die durch diese Taten Verletzte hatte - nach Erhebung der Anklage - über ihren gewählten Beistand, Rechtsanwältin T. - zunächst ihren Anschluß als Nebenklägerin erklärt und die Zulassung der Nebenklage beantragt, diesen Antrag indes im Hinblick auf das Alter des Angeklagten zurückgenommen. Sodann hat die Verletzte am 11. Dezember 2000 beantragt, ihr Rechtsanwältin T. nach § 406 g StPO als Beistand zu bestellen, hilfsweise sie ihr nach § 68 b StPO beizuordnen. In der Hauptverhandlung hat die Jugendkammer mit Beschluß vom 13. Dezember 2000 die Bestellung der Rechtsanwältin zum Verletztenbeistand abgelehnt, weil § 406 g StPO im Verfahren gegen einen Jugendlichen nicht anwendbar sei. Zugleich hat der Vorsitzende der Kammer die Beiordnung der Rechtsanwältin als Zeugenbeistand gemäß § 68 b StPO verfügt.

Gegen den Kammerbeschluß vom 13. Dezember 2000 hat die Verletzte Beschwerde erhoben. Zu deren Begründung nimmt sie - wie schon zur Begründung des zugrunde liegenden Antrages - Bezug auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. Mai 2000 (NJW 2000, S. 2436).

Das gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässige Rechtsmittel bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Zu Recht hat es die Jugendkammer abgelehnt, der Verletzten die von ihr beauftragte Rechtsanwältin nach § 406 g StPO als Beistand zu bestellen, denn diese Vorschrift ist im Verfahren gegen Jugendliche nicht anwendbar. Der Senat folgt insoweit der im Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Auffassung (Nilger in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., 11. Lieferung, Rdnr. 6 vor § 406 d; Stöckel in KMRStPO, Rdnr. 6 vor § 406 d; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 44. Aufl., Rdnr. 5 zu § 406 g; Brunner/Dölling, JGG, 10. Aufl., Rdnr. 17 zu § 48; Ostendorf, JGG, 4. Aufl., Rdnr. 1 zu § 80; Eisenberg, JGG, 8. Aufl., Rdnr. 13 zu § 80; Schaal/Eisenberg, NStZ 1988, 49 f.; Rieß/Nilger, NStZ 1987, 145 f. (153 FN 193); Kaster, MDR 1994, 1073 f.).

Demgegenüber beruft sich die Beschwerdeführerin ausdrücklich auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. Mai 2000 (a.a.O.), nach der § 406 g StPO ohne Einschränkung auch im Jugendverfahren gelten soll. In den Gründen seiner Entscheidung stützt sich das Oberlandesgericht Koblenz unter eingehender Zitierung von Hilger (a.a.O., Rdnr. 3 und 4, der aber im übrigen - vgl. oben - in Rdnr. 6 gleichwohl gerade die entgegengesetzte Auffassung vertritt), auf das Ziel der durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 in die StPO eingeführten Bestimmungen und die dadurch für den nebenklageberechtigten Verletzten und seinen anwaltlichen Beistand eröffneten Möglichkeiten. Wenn sodann das Oberlandesgericht Koblenz vor dem Hintergrund dieser berechtigten Belange ausführt, es gebe keinen vernünftigen Grund, bei der Anwendung der Vorschrift (§ 406 g StPO) danach zu differenzieren, ob das - im dort entschiedenen Fall zehn Jahre alte - Tatopfer von einem Jugendlichen oder von einem Heranwachsenden vergewaltigt worden sei, denn "für die Schutzwürdigkeit des Tatopfers ist das Alter des Täters ohne jeden Belang", dann ist dem aus der Sicht des Opferschutzes zuzustimmen.

Im Verfahren gegen einen Jugendlichen sind demgegenüber aber auch die besonderen Ziele und Grundzüge dieses Verfahrens zu berücksichtigen. Denn nach § 2 JGG gelten die allgemeinen Vorschriften somit auch die im Zuge des Opferschutzgesetzes in die StPO aufgenommenen Bestimmungen nur soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist bzw. soweit sie den Grundzügen des JGG nicht widersprechen (Nilger a.a.O., Rdnr. 6). Daß der Gesetzgeber diesen Vorrang des JGG aufgegeben oder sogar den Bestimmungen des Opferschutzgesetzes bei dessen Erlaß den Vorrang eingeräumt haben könnte, läßt sich weder diesem Gesetz noch den Gesetzesmaterialien, nach denen dieser Problemkreis offenbar nicht erörtert wurde, entnehmen (Kaster a.a.O., 1076; Schaal/Eisenberg a.a.O., 49).

Der grundsätzliche Vorrang der Bestimmungen und Grundsätze des JGG bedeutet, daß die Verwirklichung des Erziehungsgedankens, der das jugendgerichtliche Verfahren prägt, vor möglichen Beeinträchtigungen, sei es auch durch die Geltendmachung berechtigter eigener Interessen des Geschädigten, geschützt werden soll. So erklärt sich der ausdrückliche Ausschluß der Nebenklage und des Adhäsionsverfahrens gegen einen Jugendlichen in § 80 Abs. 3 bzw. in § 81 JGG offensichtlich aus der Erwägung des Gesetzgebers, daß der Erziehungsgedanke des JGG Vorrang vor den Interessen ...

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